Dass Eliud Kipchoge ein Ausnahmeläufer ist, gilt spätestens seit seinem seinem Marathon-Weltrekord in Berlin (2:01:39 Stunden, 16. September 2018) als sicher. In Wien lief er unter Laborbedingungen jetzt einen Marathon in 1:59:40 Stunden und zeigte, dass die 2-Stunden-Marke zu unterbieten ist.
So viel man über die Leistungen der ostafrikanischen Läufer aus Kenia und Äthiopien weiß, so wenig weiß man über ihr konkretes Training. Umso überraschender war es dann, als kurz vor dem Berlin-Marathon 2018 das gesamte Training von Eliud Kipchoge in den letzten 6,5 Wochen vor dem Berlin-Marathon 2017 veröffentlicht wurde. Und eines vorweg: Es steckt voller Überraschungen und Aha-Erlebnisse.
Weniger Umfang als erwartet
Eliud Kipchoge lief in den letzten Wochen für einen Weltklasse-Marathonläufer recht überschaubare Umfänge. 177 bis 192 Kilometer sind deutlich weniger, als man erwarten würde. Generell sind ostafrikanische Athleten für ihre enormen Umfänge jenseits der 220 Wochen-Kilometer bekannt.
Lange Tempodauerläufe statt lange, langsame Läufe
Die vielleicht erstaunlichste Erkenntnis aus Kipchoges Trainingstagebuch ist die Tatsache, dass er keine klassischen langen, langsamen Läufe absolviert hat. Die Basis eines jeden Marathontrainings sind Einheiten zwischen 30 und – für Spitzenathleten – 45 Kilometer, die sehr langsam gelaufen werden. Kipchoges lange Läufe waren aber vielmehr außergewöhnlich lange Tempodauerläufe zwischen 30 und 40 Kilometern mit einer Pace von 3:39 bis 3:16 min./km.
Selbst eineinhalb Wochen vor dem Berlin-Marathon absolvierte er noch einen 40-Kilometer-Lauf in 2:15 Stunden. Hätte er noch 2,195 Kilometer drangehängt, wäre er an diesem Tag den Marathon in 2:22:24 gelaufen. Klingt schnell, ist für jemanden, dessen persönliche Bestleitung – nehmen wir seine 1:59:40 Stunden von Wien als Referenz – exakt 22:44 Minuten besser ist, aber offensichtlich machbar. Bleiben wir bei seiner 1:59:40 Stunden (2:50 min./km) als Referenz und nehmen an, es entspräche seiner maximalen Leistungsfähigkeit über die Distanz eines Marathons, entspricht eine 3:16er Pace gerade mal 87 Prozent dieser Belastung. Nur zur Info: Die Pace für den Weltrekord liegt bei 2:53 min./km.
Der sicherlich größte Nutzen dieser Einheiten ist, dass sie sowohl von der körperlichen als auch von der mentalen Belastung sehr Marathon-spezifisch sind. Das Ende einer solchen Mammut-Einheit dürfte sich voll aus dem Training heraus ganz ähnlich anfühlen, wie die Kilometer jenseits der 30er-Marke im Rennen. Auch wenn diese langen Läufe in den Augen der allermeisten Läufer unglaublich schnell gelaufen wurden, stellen sie für jemanden wie Eliud Kipchoge noch keine Tempobelastung dar.
Fahrtspiele als Tempotraining
Als Tempotraining setzte Kipchoge hauptsächlich auf Fahrtspiele wie etwa 30-mal 1 Minute Belastung (etwa 2:45 min./km) mit 1 Minute Trabpause oder 13-mal 3 Minuten Belastung mit 1 Minute Trabpause. In der direkten Marathonvorbereitung für Berlin stehen lediglich vier klassische Tempoläufe (Intervall-Trainings) über 800 und 400 Meter im Plan. Unabhängig der Trainingsform ist vor allem der Fakt spannend, dass Kipchoge alle Tempobelastungen nur geringfügig schneller als das geplante Marathon-Renntempo lief. Wie schon bei den langen Läufen, scheint es ihm wichtig gewesen zu sein, Einheiten so Marathon-spezifisch wie möglich zu gestalten.
Keine Tempodauerläufe an der Schwelle
Was komplett fehlt, sind Tempodauerläufe an der aerob-anaerobe Schwelle (Laktatschwelle), wie sie eigentlich in jeder (westlichen) Trainingslehre für Läufer zu finden sind. Belastende Einheiten in Form von schnellen und/oder langen Einheiten standen dreimal pro Woche (dienstags, donnerstags, samstags) an. Die anderen vier Einheiten waren hingegen für jemanden wie Kipchoge sehr locker.
Keine Periodisierung
Betrachtet man die Trainingsaufzeichnungen weiter, fällt einem als nächstes ins Auge, dass es keine Periodisierung gibt. In der klassischen Trainingslehre folgt auf zwei bis drei Belastungswochen mit vielen Kilometern und harten Einheiten meist eine Entlastungswoche mit geringeren Umfängen und lockeren Läufen. Beim Training von Eliud Kipchoge ist eine solche Systematik nicht zu erkennen. Über die gesamten sechseinhalb Wochen vor dem Marathon, von denen Daten vorhanden sind, bleiben die Wochenumfänge recht konstant und weichen, wie oben genannt, nur um 15 Wochenkilometer voneinander ab.
Meist trainierte Kipchoge zweimal täglich – einmal morgens, einmal nachmittags. Im gesamten Trainingsblock vor dem Berlin-Marathon findet sich nicht ein einziger Ruhetag, stattdessen stand jeweils sonntags nur eine lockere Einheit über rund 20 bis 22 Kilometer auf dem Plan. Diese startete er meist in – beachten Sie, dass seine geplante Renn-Pace über den Marathon 2:53 min./km betrug – sehr, sehr langsamen 6-Minuten-Pace.
Eliud Kipchoge trainierte in der Höhe
Was man – neben der langjährigen Weltklasse-Form Kipchoges – bei der Betrachtung des Trainings und der Beurteilung des Tempos niemals außer Acht lassen sollte, ist, wo Eliud Kipchoge diese Einheiten gelaufen ist. Das gesamte Training fand in der kenianischen Hochebene auf rund 2.400 Meter über dem Meeresspiegel statt. Seine langen Läufe sowie die Fahrtspiele, rannte Kipchoge auf matschigen, staubigen, unebenen und welligen Straßen. Hinter manchen Einheiten steht die Notiz, dass es so matschig war, dass er Umwege laufen musste.
Was kann man von Kipchoges Training lernen?
Nun stellen Sie sich sicherlich die Frage, was Sie von Eliud Kipchoges Training für sich selbst adaptieren können. Nicht viel! Kipchoge verfügt durch sein langjähriges (Marathon-)Training über eine enorme Grundlage. Die Geschwindigkeit, die er für einen Weltrekord laufen müsste, stellt ihn laufökonomisch vor keine Herausforderungen. Entsprechend konzentriert er sich mit relativ langsamen Tempoeinheiten in der Höhe darauf, die Geschwindigkeit für einen Marathon ökonomisch laufen zu können. Ebenso spielen die im Vergleich recht überschauberen Wochenkilometer und die geringe Intensität der allermeisten Einheiten eine wichtige Rolle, um sich von den langen, harten bis zu 40 Kilometer langen Läufen erholen zu können. Sollten Sie versuchen, in der Vorbereitung auf einen Marathon noch zehn Tage vor dem Rennen 40 Kilometer flott zu laufen, wäre das wohl eher keine gute Idee.
Zwei Dinge können und sollten Sie sich aber von Eliud abschauen: seine mentale Stärke sowie seine langjährige Konsistenz. Kipchoge ist überzeugt davon, dass er der beste Marathonläufer der Welt ist, und trainiert seit Jahren ohne größere Verletzungspause. Gut, Sie sollten nun nicht unbedingt von sich selbst denken, dass Sie der beste Läufer auf diesem Planeten sind, aber vertrauen Sie in Ihre Fähigkeiten. Mit einer soliden Vorbereitung, zum Beispiel anhand unserer RUNNER'S WORLD-Trainingspläne können Sie Ihre Marathon-Ziele erreichen.
Sie wollen sich das gesamte Training Tag für Tag anschauen? Kein Problem! Hier finden Sie das komplette Trainingstagebuch von Eliud Kipchoge in den Wochen vor dem Berlin-Marathon 2017. Ob dieses wirklich genau so stattgefunden hat, ob Kerneinheiten fehlen oder ob Kipchoge sogar etwas ganz anderes trainiert hat, ist unklar. Wobei es recht unwahrscheinlich scheint, dass jemand wie Kipchoge andere mit seinem Training hinters Licht führen möchte. Dazu sind dann auch letztlich die Trainingsgruppen in Kenia zu groß, um irgendetwas über lange Sicht geheim zu halten.
Ob und wie Kipchoge in der letzten Woche getapert, also das Training heruntergefahren, hat, ist nicht bekannt.