Passgenau auf den Zähnen angebrachte Schienen – so etwas kennen die meisten als Zahnspange zur Korrektur der Zahnstellung, oder als Knirscherschiene, die nächtliches Aufeinanderreiben der Zähne verhindern soll. Doch es gibt auch Zahnschienen, die dazu dienen, die Lauf-Performance zu verbessern. Das mag erst mal überraschen, denn der Zahnapparat und die hauptsächlich am Laufen beteiligte Muskulatur liegen weit voneinander entfernt. Dennoch steht beides in Verbindung: „Schon in den 60erJahren gab es erste Untersuchungen, die darauf hinwiesen, dass es eine Wirksamkeit der Schienen hinsichtlich einer Leistungssteigerung gibt“, erklärt Prof. Dr. Rainer Hahn, der am zahnärztlichen Versorgungszentrum in Tübingen praktiziert und das Unternehmen Splint Tech GmbH gegründet hat, das Zahnschienen für Sportler entwickelt.
Grundsätzlich liegt dem Wirkprinzip zugrunde, dass der Zahnapparat eng mit der sogenannten Retikulärformation (Formatio reticularis) im Stammhirn verbunden ist – einem Hirnareal, dem Psyche und Empfindung zugeordnet werden. „Diese Verknüpfung kann man etwa daran gut bemerken, dass eine Aggressionshaltung oft mit Kieferanspannung einhergeht. Das ist ein in uns angelegtes evolutionäres Prinzip“, sagt Hahn. Ebenso sind in diesem Hirnbereich die Bewegungsmuster abgelegt, die wir uns im Verlauf des Lebens angeeignet haben, also auch die Laufbewegung. Reflexpunkte an der Zahnwurzel Darüber hinaus ist der Zahnhalteapparat sehr tastintensiv. Ein alltagsnahes Beispiel des Professors: „Sobald Sie einen Kirschkern im Mund bemerken, lassen Sie diesen reflektorisch extrem schnell los, bevor ein Zahn durch Daraufbeißen Schaden nehmen könnte. Daran lässt sich zeigen, wie hochreaktiv die Rezeptoren im Dentalbereich sind.“
Rezeptoren an den Zahnwurzeln
An den Wurzelhäutchen der Zähne befinden sich also Rezeptoren. Diese sind in der Lage, Signale ans Stammhirn, an die Formatio reticularis, zu senden. Genau hier setzt das Prinzip der Schiene an: Sie sendet durch gezielt an der Schiene angebrachte Stimulationspunkte Impulse ans Stammhirn. Weil genau dort die Laufbewegung entsteht, kann man über diese Reizsetzung erlernte Reflexe und Bewegungsmuster optimiert abrufen. So lässt sich etwa erreichen, dass Bewegungsmuster – wie die Laufbewegung – symmetrischer werden, je nachdem, wie die Schiene gestaltet ist und welche Reflexpunkte angesprochen werden. Ein weiterer Wirkungsaspekt ist das Gleichgewichtsorgan. Lange hatte man angenommen, dieses säße ausschließlich im Innenohr. Neueste Erkenntnisse zeigen jedoch, dass auch innerhalb der Kau- und Kiefermuskulatur Teile des Gleichgewichtssinns angesiedelt sind. Somit kann eine Zahnschiene auch zu einem besseren Gleichgewicht beitragen.
Wir halten fest: Die Leistungssteigerung per Zahnschiene hat nichts mit dem Herz-Kreislauf-System oder einem Muskelaufbau zu tun, sondern die Schiene wirkt über die Verbesserung der Laufbewegung, anders als etwa die aktuellen Karbonschuh-Konstruktionen aber nicht durch eine physische Einwirkung, sondern neuromuskulär. „Viele Studien bestätigen die Wirksamkeit der Performance-Zahnschiene“, weiß Prof. Dr. Hahn zu berichten. „Das lässt sich bei vielen Sportarten beobachten. Bei Golfern konnte man zum Beispiel zeigen, dass sich durch das verbesserte Bewegungsmuster die Abschlaggeschwindigkeit verbessern lässt. Auch Studien aus dem Laufbereich zeigen, dass sowohl Hürdenläufer als auch Athletinnen und Athleten über Kurz- und Langdistanzen schneller werden. Die wahrscheinlichen Gründe sind hier eben genau die verbesserte Symmetrie des Laufmusters und eine verbesserte Reaktionsgeschwindigkeit.“
Arne Gabius läuft mit Schiene
Doch nicht nur in der Theorie und durch Studien ist die leistungsverbessernde Schiene geprüft: In der Praxis nutzen bereits viele Sportlerinnen und Sportler das zahnmedizinische Läufer-Gadget. Hahn berichtet, er selbst sei zuerst 2018 beim Berlin-Marathon darauf aufmerksam geworden, dass amerikanische Läuferinnen mit sichtbaren Zahnschienen gelaufen waren. Hahns Schienen unterscheiden sich aber von dieser Konstruktion: Sie umschließen lediglich die seitlichen Zähne des Unterkiefers, sparen also den Vorderkiefer aus und sind damit auf den ersten Blick unsichtbar. Prof. Hahn weiß dennoch, wer bereits mit Schiene läuft: Florian Orth etwa, mehrfacher deutscher Meister im 1.500-Meter-Lauf, oder Arne Gabius, der jahrelang deutscher Rekordhalter auf der Marathondistanz war. Im Spitzensport scheinen die Schienen also längst angekommen und etabliert zu sein.

Es gibt sogar spezifische Schienen – eine fürs Training und eine mit etwas stärkerer Intensität für den Wettkampf. Auf dieses Prinzip setzt zum Beispiel auch Arne Gabius, der zwei verschiedene Schienen besitzt. Eine Sport-Zahnschiene kann allerdings auch für Hobbysportler sinnvoll sein. Der Nutzen muss ja auch nicht unbedingt im Erreichen einer schnelleren Zeit bestehen. Da die Performance-Schiene die Laufbewegung verbessern kann, beugt sie aus Fehlbelastungen resultierenden Erscheinungen wie zum Beispiel Muskelkrämpfen vor. „So kann sich die Regenerationsphase durchaus verkürzen, was auch ein Hobbysportler als äußerst angenehm empfinden dürfte“, sagt Hahn. Das Tragen einer Knirscherschiene reicht dazu allerdings nicht aus. Diese ist in den meisten Fällen ein reiner Verschleißschutz. Die gezielte Stimulation der rezeptorischen Punkte würde fehlen und somit auch die erhoffte Bewegungsoptimierung ausbleiben.
Herstellung im 3-D-Druckverfahren
Woher bekommt man nun also eine Performance-Schiene? Es gibt ein Netzwerk ausgebildeter Zahnärzte, circa 1.000 hat Prof. Hahn in den letzten Jahren weitergebildet, die zumindest die nötigen Abdrücke machen können. Darauf weist in der Regel der Hinweis „Sportzahnmedizin“ am Praxisschild hin. Die eigentliche Herstellung einer Schiene erfolgt im 3-D-Druckverfahren, woran sich eine fachkundige Nachbearbeitung und individuelle Anpassung anschließt. Wer mit etwas weniger Aufwand an eine Schiene kommen möchte, kann auf ein neues Konzept zurückgreifen: Der Patient erhält per Paket das notwendige Material, um die für den 3-D-Druck nötigen Angaben selbst zu übermitteln. In einigen Fällen ist eine Performance-Schiene allerdings nicht anwendbar. Durch eine festsitzende Zahnspange sind die Zähne miteinander verbunden, sodass die Rezeptoren nicht differenziert angesprochen werden können. Bei fortgeschrittener Parodontose ist der Zahnhalteapparat zu sehr geschädigt. Und bei zu viel Zahnersatz sind nicht mehr genügend Rezeptoren vorhanden.
Blendende Aussichten für Zahnärzte und Läufer
Ist die Zahnschiene jedoch anwendbar, scheint sie ein vielversprechender Zugewinn für uns Läufer zu sein. Die Technik wird ständig verbessert, und es gibt bereits Ideen, wie sich das Anwendungsspektrum noch erweitern ließe. Prof. Dr. Hahn gibt einen Ausblick: „Die Zukunft hat bereits damit begonnen, dass es neuerdings neben dem Sportmodell auch spezielle Schienen gibt, welche die Entspannung und Rehabilitierung fördern. Nach einer Verletzung könnte sich so etwa auch die Heilungszeit verkürzen: Dies könnte sich dadurch erreichen lassen, dass man reflektorische Schonhaltungen umgeht und das Training schneller wieder besser durchführen kann. Ein weiterer Aspekt wäre, gezielt Verspannungen zu behandeln oder in Stresssituation vor dem Wettkampf für Entspannung zu sorgen. Außerdem gibt es bereits eine Studie, in der Rechenaufgaben schneller gelöst werden konnten, wenn eine Zahnschiene getragen wurde, was wiederum darauf hindeutet, dass wir auch die Konzentrationsfähigkeit verbessern können.“ Es scheint also im Hinblick darauf, wie Zahnärzte Läufer unterstützen können, noch viel mehr Potenzial zu geben.