Essstörungen unter Sportlerinnen und Sportler sind keine Seltenheit, im Gegenteil. Die Häufigkeit von gestörtem Essverhalten unter Sporttreibenden liegt Schätzungen des Sportwissenschaftlers Wilhelm Bloch zufolge bei 10 bis 20 Prozent. Zwar sind im Schnitt mehr Frauen betroffen, die Verteilung zwischen Männern und Frauen ist aber nicht unterschiedlich, wie oft angenommen.
Männer suchen sich oft nicht so schnell Hilfe wie Frauen und neigen dazu, psychische Erkrankungen noch mehr zu tabuisieren. Denn vor allem die Magersucht galt und gilt bis heute als „Frauenkrankheit“. Doch es gibt neben der Magersucht auch andere, noch verbreitere Formen der Essstörung und viele männliche Betroffene suchen sich aus Schamgefühlen keine Hilfe. Laut BARMER-Krankenkasse ist davon auszugehen, dass etwa 61 von 1.000 Frauen und 18 von 1.000 Männern in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken. Die Dunkelziffer dürfte sehr groß sein. Es gibt Schätzungen, die laut der BARMER davon ausgehen, dass zehn bis fünfundzwanzig Prozent aller Menschen mit Essstörung Jungen und Männer sind.
Sowohl im Leistungssport als auch im Hobbysport gibt es Betroffene
Im Leistungssportbereich sind Essstörungen bis heute ein Tabuthema. Zu riskant ist es, beim Schritt an die Öffentlichkeit die eigene Karriere zu gefährden. Doch es gibt immer mehr Sportlerinnen und Sportler, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung äußern. Einer der bekanntesten Fälle ist Skispring-Weltmeister Sven Hannawald. Der ehemalige Profisportler sprach nach seiner Karriere öffentlich über die Essstörung und seiner Grenze zur Magersucht, die er lange geleugnet hatte.
Die ehemalige Turnerin Kim Bui und Ex-Biathletin Miriam Neureuther beweisen großen Mut, wenn sie in der Dokumentation „Hungern für Gold“ über ihre Essstörungen sprechen. Denn obwohl psychische Erkrankungen in der Gesellschaft mittlerweile besser akzeptiert werden, als noch vor einigen Jahren, werden Essstörungen gerade im Leistungssport häufig unter den Teppich gekehrt.
Der deutsche Rudersportler Bahne Rabe, der 1991 Weltmeister im Vierer mit Steuermann wurde, starb 2001 im Alter von nur 37 Jahren, geschwächt von Magersucht, an einer Lungenentzündung.
Doch auch unter Hobbysporttreibenden sind Essstörungen – oft in Kombination mit einem Sportzwang – häufig der Fall. Hier sind die Gründe naheliegend nicht der Leistungsdruck durch bevorstehende Wettkämpfe, sondern vielmehr intrinsicher, psychosomatischer Natur.
Welche unterschiedlichen Arten der Essstörung gibt es?
Grundsätzlich unterscheidet die Wissenschaft zwischen drei Arten von Essstörungen:
- Anorexia Nervosa (Magersucht),
- Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) und
- Binge-Eating-Disorder (extremes Fasten und unkontrollierte Essanfälle wechseln sich ab).
Die Übergänge der Erkrankungen können fließend sein, häufig vermischen zwei oder drei der Formen sich.
Sowohl bei den Männern als auch den Frauen ist die Binge-Eating-Störung am häufigsten. Etwa 30 bis 40 Prozent der Betroffenen, die an einer Binge-Eating-Störung leiden, sind Männer.
Welche Essstörungen sind im Sportbereich besonders häufig?
Alle drei Hauptformen von Essstörungen, Magersucht, Bulimie und Binge-Eating, finden sich im Sportbereich wieder. Immer häufiger findet in der Sportwissenschaft auch das RED-S (Relative Energie-Defizit-Syndrom) Erwähnung. Dieses wird nicht, etwa wie die Anorexia Athletica (Sport-Magersucht), als psychosomatische Erkrankung eingeordnet, sondern ist viel mehr ein körperliches Syndrom, das Folge von restriktivem Essverhalten ist. Die Sportwissenschaft spricht bei Leistungssportlern in der Regel nicht mehr von Anorexia athletica oder Sportzwang, sondern vom RED-S .
Das RED-S tritt vor allem bei Leistungssportarten auf, wo ein geringes Gewicht gewünscht ist. Im Laufsport gilt etwa die Devise „Je dünner, desto schneller“. Auch ästhetische Sportarten wie Ballett, Kunstturnen, Eiskunstlauf und rhythmische Sportgymnastik fordern extrem schlanke Körper. Ebenso kann Sport mit Gewichtsklassen wie Judo und Boxen Essstörungen befördern.
Auch die ehemalige Spitzenturnerin Kim Bui erlebte den Druck, einem Schönheitsideal zu entsprechen, durch das sich die Trainer auch mehr Leistung versprachen: „Damals war es so, dass ich immer mal wieder gewogen worden bin, und irgendwann hieß es, na ja, kannst du denn nicht mal auf dein Gewicht ein bisschen achten? Es fing erst mal relativ harmlos an, und dann wurde es immer mehr. Ja, achte doch mal bitte noch drauf, und das häufte sich irgendwann, und dann war es auch dann der Fall, wenn du auf dein Gewicht achtest oder wenn du vielleicht nochmal ein Kilo abnehmen könntest, dann würde dir das eine oder andere leichter fallen“, erzählt die 33-Jährige in der Dokumentation „Hungern für Gold“. So begann sie, sich das Essen zu verbieten. Und entwickelte eine Bulimie.
Auch der ehemalige Radsport-Profi Dominik Nerz, der seine Karriere bereits im Alter von 27 Jahren aus gesundheitlichen Gründen beendete, hat seine Magersucht öffentlich gemacht. So berichtete er im Deutschlandfunk-Sportgespräch: „Es war so ein bisschen Step-by-Step. Ich habe das auch selber gar nicht wirklich gemerkt, ich habe nur gemerkt, dass das Thema Essen für mich auf einmal wirklich ein Thema war, worüber ich mir am Anfang nie Gedanken gemacht habe. Und auf einmal habe ich angefangen, wirklich jede Kalorie zu zählen, mir ganz genau zu überlegen, was ich wann wie zu mir nehme, bis zu dem Punkt, dass ich dann komplett aufgehört habe zu essen.“
Das restriktive Essverhalten entsteht bei Leistungssporttreibenden anders als bei einer „herkömmlichen“ Anorexie nicht unbedingt aus einem psychologischen Gründen heraus, sondern wegen des hohen Drucks, Leistung zu bringen, doch auch einem gewissen Ideal sollen die Sporttreibenden entsprechen. Der schmale Grat ist schnell überschritten und Kontrolle wird zum Zwang – es entwickelt sich eine Magersucht, Bulimie, Binge-Eating-Störung oder eine Mischform.
Die Problematik der zu geringen Energiezufuhr bestätigt auch Lauftherapeutin Katja Cordts-Sanzenbacher. Sie sagt, dass man im Spitzenfeld der Marathonläuferinnen und -läufer vergeblich nach Normalgewichtigen suche, und betont, dass ein verringertes Körpergewicht nur so lange zu einer Leistungsverbesserung führen könne, bis eine gewisse Grenze über- beziehungsweise unterschritten wird. Die Folgen einer Magersucht könnten dann einen extremen Leistungsabfall im Sport bedeuten: „Denn die körperlichen Einschränkungen wegen des permanenten Energiemangels sind gravierend“. Für die Therapeutin ist „Je dünner, desto schneller“ also eine Annahme, die sich ab einem bestimmten Punkt selbst aufhebt, zum unwahren Mythos und zu einer großen Gefahr wird.
Das Inkaufnehmen des möglichen Abrutschens in eine Essstörung grenzt für die Lauftherapeutin an fahrlässiger Körperverletzung. Sowohl bei einer Magersucht als auch beim RED-S kommt es zu ähnlichen Schäden. Der Hormonhaushalt gerät durcheinander, eine Folge davon kann Unfruchtbarkeit sein. Es kann mehrere Jahre dauern, bis sich dies wieder reguliert, in besonders schlimmen Fällen bleiben die Schäden für immer.
Wie erkenne ich eine Essstörung?
Wer sich ständig um das, was er isst und das eigene Körpergewicht sorgt, Mahlzeiten verweigert oder unkontrolliert und heimlich isst, unterschwellig immer eine Panik verspürt, zuzunehmen, ein geringes Selbstbewusstsein und einen hohen Leidensdruck, in Bezug auf Nahrungsaufnahme und den eigenen Körper, verspürt, leidet unter einer Essstörung. Die Symptome und das Ausmaß der Erkrankung können bei jedem Menschen individuell stark sein.
Bei Männern sinkt durch ein Energiedefizit der Testosteronspiegel, ein Symptom, das sich von außen nicht erkennen lässt. Frauen haben hingegen einen Superzeiger: die Periode. „Wenn die Periode bei der Frau ausbleibt, ist das kein Zeichen für tolles, hartes Training, sondern ein Warnsignal, dass etwas im Energiehaushalt absolut nicht stimmt“, sagt Sportmedizinerin Petra Platen.
Isabelle Baumann, Bundestrainerin für die Langstrecke der Frauen, sagt allerdings: „Es ist tatsächlich so, dass im hohen Profibereich die Menstruation gar nicht aufrechterhalten kann. Eben wegen des vielen Trainings und des geringen Gewichts“.
Vor allem bei einer Magersucht sind Betroffene aufgrund der fehlenden Energie oft müde und frieren. Es kann zu Herzrhythmusstörungen und Kreislaufproblemen kommen. Besteht über Jahre ein Energiedefizit, gibt es ein erhöhtes Risiko zur Osteoporose (Knochenbrüchigkeit), weil sich die Knochendichte verringert. Essstörungen können sowohl zu Angststörungen und Depressionen führen, als auch aus ihnen resultieren.
Ein starkes Untergewicht kann zu erhöhter Knochenbrüchigkeit und im schlimmsten Fall zum Versagen der lebenswichtigen Organe wie Leber, Niere und Herz führen.
Hilft Sport bei Essstörungen?
Sport ist sehr gesund, im Falle einer Magersucht ist aber aufgrund der geringeren Knochendichte und des ohnehin sehr geringen Gewichts zunächst davon abzuraten. Es kann jedoch auch belastend sein, auf Sport verzichten zu müssen und ein totales Verbot führt meistens dazu, dass Betroffene heimlich Sport treiben. Bewegung kann bekanntlich auch bei psychischen Erkrankungen eine Wohltat sein, gerade weil Sport das Körpergefühl, das bei Essgestörten meist sehr negativ ist, positiv beeinflusst. Auf keinen Fall darf jedoch exzessiv Sport getrieben werden.
Ein Forscherteam des Psychologen Ulrich Ebner-Priemer vom Karlsruher Institut für Technologie und die Psychosomatikerin Almut Zeeck von der Universität Freiburg sind in einer Studie der Sache näher auf den Grund gegangen. Sie wollten herausfinden, wie tägliche Bewegung und Sport eine Essstörung beeinflussen kann.
29 Frauen in einem Durchschnittsalter von 26 Jahren, die an Magersucht oder Bulimie litten, sowie 35 gesunde Frauen wurden mit einem Bewegungssensor ausgestattet. Zusätzlich führten die Frauen ein elektronisches Tagebuch, in das sie ihre Stimmung vor und nach dem Sport eintrugen. Das durchschnittliche Ergebnis: Die Betroffenen fühlten sich nach dem Sport weniger unter Druck, abnehmen zu müssen, sie fühlten sich entspannter und hatten – zumindest kurzzeitig – ein positiveres Gefühl für sich und ihren Körper.
Sinnvolles, gesundes Training bei einer Essstörung
Trotzdem sind Sporteinheiten mit Vorsicht zu genießen, da genau diese positiven Gefühle, dazu führen können, dass Betroffene sie in übertriebenem Maße herbeiführen wollen. Viele Menschen mit Essstörung setzen außerdem vor allem Ausdauersport gerne dazu ein, um weiter abzunehmen. Daraus kann sich ein extremer Sportdrang entwickeln, der schließlich genauso exzessiv ausgeübt wird, wie das „Nicht-Essen“.
Eine Sportsucht kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass Betroffene nie wieder Sport machen können, um nicht rückfällig zu werden. Wer nicht darauf verzichten möchte, muss lernen, dem Sport statt einer zwanghaften, negativen Bedeutung eine positive zu geben, und so ein gesundes Sportverhalten zu entwickeln. Die Freiburger Psychotherapeutin Andrea Ketruschke erklärt: „Zum Beispiel über die Sinneswahrnehmung: Wie gut riecht die Herbstluft, wenn ich durch den Wald jogge? Wie ist es, wenn ich meine Atmung spüre?“. Regelmäßig ausgeübt hilft der Fokus auf die Sinneswahrnehmung die Synapsen im Gehirn umzupolen. So können Betroffene ein Wohlgefühl beim Sport schaffen, welches den Suchtkick ersetze.
Wer stark untergewichtig ist, sollte zunächst mit Yoga und Pilates beginnen oder entspannte Runden auf dem Rad drehen. Ausdauertraining in Form von Laufen, Schwimmen und Radfahren sollte zunächst noch nicht an erster Stelle stehen. Betroffene müssen lernen, Sport in einem kontrollierten Rahmen auszuüben und die Grenze zu erkennen, an der das Sportmaß zu viel und schädlich wird.
Hilfe und Tipps im Fall einer Essstörung
Grundsätzlich sollte man bei Essstörungen unbedingt ärztliche und psychologische Unterstützung suchen. Das empfiehlt auch Petra Platen Betroffenen dringlich: Sie rät im Fall einer Essstörung zu einer psychiatrischen Behandlung, „weil das in der Regel durch die Betroffenen allein nicht beherrschbar ist, womöglich entgleist und sogar bis zum Tod führen kann“.
Zunächst sollten sich Betroffene an ihren Hausarzt (oder im Fall von Minderjährigen, die betroffen sind, an den Kinderarzt) wenden. Dort kann festgestellt werden, in welchem Stadium sich die Essstörung befindet und welche Therapie sich anbietet. Essstörungen lassen sich in der Regel gut behandeln und je eher man reagiert, desto besser. In vielen Fällen reicht eine ambulante Therapie – manchmal bedarf es aber auch eines Klinikaufenthalts oder einer therapeutischen Wohngruppe. Beim Bundesfachverband für Essstörungen gibt es zahlreiche Informationen und Adressen sowie einen „Quickcheck Essstörungen“, der schon mögliche Hinweise auf eine therapiebedürftige Störung geben kann. Außerdem besteht die Möglichkeit, online nach freien Therapieplätzen zu suchen.
Fazit: Essstörungen im Sportbereich sind keine Seltenheit – Betroffene müssen sich unbedingt helfen lassen
Der Druck, unter dem Spitzensporttreibende stehen, Leistung zu bringen, treibt sie nicht selten in eine Essstörung – Schätzungen zufolge sind bis zu 20 Prozent aller Leistungssportlerinnen und Leistungssportler betroffen. Aber auch unter Hobbysportlerinnen und Hobbysportlern ist gestörtes Essverhalten, oft in Kombination mit einer Sportsucht, keine Seltenheit. Die häufigste Essstörung ist die Binge-Eating-Störung, bei der sich Heißhungerattacken mit extremen Fastenphasen abwechseln.
Warum ein Mensch in eine Essstörung rutscht, kann unterschiedliche, psychosomatische Gründe haben – bei den Profis beginnt die Erkrankung oft mit einer restriktiven Diät aus Leistungsgründen, bis sich ein Zwang entwickelt. Bei Hobbysporttreibenden entwickelt sich eine Essstörung häufig aus dem Grund heraus, abnehmen zu wollen oder weil Betroffene auf anderen Ebenen ihres Lebens eine Leere verspüren, die sie durch die totale Kontrolle über Essen und Sport füllen wollen.
Betroffene sollten sich unbedingt ärztliche und psychologische Unterstützung suchen, denn Essstörungen zählen zu den psychischen Erkrankungen und können den Alltag und die Lebensqualität stark einschränken – im schlimmsten Fall sogar das Leben kosten. In der Regel lassen sich Essstörungen, je früher man reagiert, gut behandeln.