Peter Kuhn im Interview
„Der Laufsport kann die Symbolsportart für diese Menschheitsaufgabe werden“

Prof. Dr. Peter Kuhn lehrt an der Universität Bayreuth Sportwissenschaft und hat mit Kollegen eine Denkfabrik für den nachhaltigen Sport gegründet. Wir sprachen mit ihm über Nachhaltigkeit im Laufsport.
Sportwissenschaftler Prof. Dr. Peter Kuhn von der Universität Bayreuth
Foto: Manu Theobald

RUNNER’S WORLD: Herr Kuhn, wie nachhaltig ist der Laufsport aktuell?

Peter Kuhn: Da gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die schlechte: Der Laufsport ist nicht nachhaltig. Aber die gute gleich hinterher: Er ist vergleichsweise nachhaltig. Es ist immer die Frage des Maßstabs. In unserem Verständnis ist der Laufsport sehr weit. Er braucht sehr wenig Material, Mobilität und Infrastruktur und ist damit eigentlich die Vorzeigesportart – vielleicht abgesehen von Tai Chi oder Yoga, wo man eigentlich gar nichts braucht, keine besondere Kleidung, keinen besonderen Ort. Der Laufsport ist da relativ nah dran. Und trotzdem gibt es noch Luft nach oben.

Laufen und Nachhaltigkeit
Sportwissenschaftler Prof. Dr. Peter Kuhn von der Universität Bayreuth
Manu Theobald
Prof. Dr. Peter Kuhn lehrt an der Universität Bayreuth Sportwissenschaft. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat er think.sportainable gegründet, eine Denkfabrik für den nachhaltigen Sport.

Sehen Sie denn in Bezug auf Nachhaltigkeit Unterschiede zwischen dem Straßenlaufsport und dem Trailrunning?

Ja. Das Trailrunning findet ja in der Natur statt, da kann es sein, dass der Läufer Flora und Fauna in gewisser Weise stört. Allerdings werden diese Trails ja nicht einfach irgendwo hingelegt, sondern mit den örtlichen Experten wie Förstern oder Landschaftspflegern angelegt, sodass wir davon ausgehen können, dass hier verantwortlich gehandelt wird. Aber wir wissen aus Studien, mein Kollege Manuel Steinbauer ist da führend, dass Menschen in der Landschaft andere Arten verdrängen können. Ich sage bewusst Landschaft und nicht Natur; Manuel Steinbauer sagt, es gibt eigentlich gar keine vom Menschen ungestörte Natur mehr, außer vielleicht im Amazonas ein kleines Fleckchen. Es gibt Arten, die sich darauf einstellen, wenn die großen Zweibeiner unterwegs sind, und sich dann etwas zurückziehen, sich aber nicht grundsätzlich verjagen oder stören lassen. Aber wir sehen in diesen Studien auch Änderungsbewegungen in der Fauna, die sich andere Räume suchen, wenn solche Veranstaltungen häufig stattfinden.

Lassen Sie uns einmal auf die unterschiedlichen Ebenen blicken. Zunächst: Was kann der einzelne Mensch tun, um seinen Laufsport nachhaltiger auszuüben? Wahrscheinlich gibt es viele Möglichkeiten, welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten?

Da gibt es gar nicht so viele. Das Beste wäre, erstens, nicht mit dem Auto zum Laufen zu fahren. Autofahren ist das größte Problem des Sports. Zweitens: Weniger Laufschuhe kaufen. Wir wissen aus Studien, dass der sogenannte nachhaltige Laufschuh nicht die Lösung ist, weil er nur in Anführungszeichen nachhaltig ist. Es werden bestimmte Materialien ausgetauscht, aber der Produktlebenszyklus an sich bleibt erhalten. Das Produkt braucht Rohstoffe, es muss produziert werden, es legt eine bestimmte Strecke zurück. Irgendwann ist der Schuh runtergelaufen und muss entsorgt werden. Das bleibt alles gleich, egal welche Art von Material drinsteckt. Das heißt, der Ökolaufschuh ist die zweitbeste Lösung. Die beste Lösung wäre, man würde weniger Schuhe kaufen. Das würde rückwirkend bedeuten, dass jetzt große Player wie beispielweise RUNNER’S WORLD auf die Hersteller einwirken könnten, dass sie langlebigere Schuhe bauen. Dann müssen wir nämlich weniger Schuhe kaufen.

Wir haben nun also erstens Mobilität, zweitens Material und drittens noch den Raum, in dem wir laufen. Ich würde jetzt nicht empfehlen, nur noch auf Asphalt zu laufen. Es ist einfach schöner, in den Wald reinzulaufen – ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe hier die Möglichkeit. Aber dabei wäre es gut, wenn man sich kundig macht, dass man Flora und Fauna nicht beeinträchtigt, beispielsweise beim örtlichen Förster. Dann haben wir drei Aspekte, die der Einzelne gut machen kann und wo er auch Entscheidungen treffen kann.

Über welche Größenordnungen reden wir hier bei Mobilität und Laufschuhen?

Wir gehen davon aus, dass die Mobilität im Durchschnitt ungefähr 50 Prozent des Impacts darstellt, also die Hälfte des Problems, das der Sport erzeugt. Auch beim alpinen Skisport beispielsweise ist das größte Problem die Mobilität. Wenn wir nicht mit dem eigenen Auto anreisen, sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, oder wenn wir wenigstens die Fahrgemeinschaften so voll wie möglich machen, dann reduzieren wir unseren Impact schon ganz erheblich. Das zweite Problem ist das der Verbrauch von Energie und Material, das dritte die Verdrängung von Flora und Fauna. Das ist die grundsätzliche Reihenfolge, wobei das auch von Sportart zu Sportart unterschiedlich ist, je nachdem wie weit man reisen muss. Aber ganz grob kann man sagen, dass die Hälfte des Umweltproblems des Sports in der Mobilität liegt.

Kommen wir zu den Lauftreffs oder Vereinen: Wie stark sind die Nachhaltigkeitsbestrebungen in diesem Bereich und welche Verbesserungspotentiale sehen Sie?

Wir haben hier ein sehr großes Spektrum. Es gibt Vereine, die interessieren sich nicht für das Thema. Aber in dem Moment, wo einer dabei ist, der sagt, wir sollten uns auch mit dem Thema beschäftigen, ist der Verein schon auf dem Weg nachhaltiger Entwicklung. Zu den Punkten Mobilität und Material kommt hier noch die Location, wo man sich trifft. Und wo man sich auch beispielsweise darüber austauschen kann, wie man sich ernährt. Es kommt auf einzelne Personen an, die sich um etwas bemühen. Unsere Wahrnehmung ist, dass der Laufsport hier relativ weit ist. Das hat damit zu tun, dass der Laufsport draußen stattfindet und Draußensportler ein vergleichsweise hohes Bewusstsein für Nachhaltigkeit haben, insbesondere die, die in die Landschaft gehen. Man sieht das auch in Foren, in denen sich Läufer treffen; dort wird das Thema schon erkennbar besprochen.

Großes Thema beim Laufen sind die Veranstaltungen. Was sind hier vielversprechende Ansätze für mehr Nachhaltigkeit und in welche Richtung sollten Laufveranstalter denken?

Ich fang mal ganz oben an: Es gibt die Website Green Champions, die vom Deutschen Olympischen Sportbund zusammen mit dem Kölner Kollegen Ralf Roth aufgelegt worden ist. Dort kann man seine eigene Veranstaltung konfigurieren. Bei einer Laufveranstaltung hat man vielleicht zehn oder zwölf Oberkategorien, an denen man arbeiten kann, zum Beispiel Mobilität, Material, Nachhaltigkeitsmanagement, Energiemanagement. Man kann dann hergehen und sagen: So, wir wollen uns bei unserem nächsten Event mit einem Thema beschäftigen, beispielsweise Wegwerfmaterialien. Dann kann man hier schauen, wo es Alternativen gibt. Und die gibt es. Es gibt Firmen, die stellen Becher, Teller und anderes, was wir normalerweise wegwerfen, aus wirklich kompostierbarem Material her, das sich auf dem Komposthaufen verhält wie eine Nussschale.

Die gleichen Kriterien wie für Sportgroßveranstaltungen gelten aber auch für andere Veranstaltungen. Es gibt ungefähr zwölf Kategorien, die eine Veranstaltung mehr oder weniger nachhaltig machen können. Meine Empfehlung für jährliche Veranstaltungen wäre, sich nicht gleich alles vorzunehmen, sondern sich in diesem Jahr mit diesem Schwerpunkt zu beschäftigen und im nächsten mit jenem. So wächst man mit der Zeit und wird zunehmend nachhaltiger.

Kommen solche Bemühungen bei den Teilnehmenden positiv an? Wirkt sich das vielleicht auch positiv auf Teilnahmezahlen aus?

Dazu kann ich nur spekulieren. Wir arbeiten gerade mit dem Allgäu-Triathlon zusammen. Sie sind intrinsisch motiviert, ihre Veranstaltung mit unserer Unterstützung nachhaltig zu gestalten. Sie denken nicht in erster Linie daran, mehr Teilnehmer oder mehr Zuschauer zu gewinnen, sondern sie wollen vorangehen, weil sie es für wichtig und sinnvoll halten. Der Anlass, warum sie auf uns zugekommen sind, war ihr 40-jähriges Jubiläum – jetzt 2022. Sie sagten: „Wir sind jetzt 40 Jahre alt und wir wollen die Veranstaltung auch noch 40 Jahre lang machen.“ Man rechnet damit, dass die Menschen mehr und mehr umweltbewusst werden, sowohl Athleten wie auch Zuschauer und deswegen früher oder später lieber zu Veranstaltungen gehen, die ein Zertifikat haben, dass sie nachhaltig sind.

Sportwissenschaftler Prof. Dr. Peter Kuhn von der Universität Bayreuth
Manu Theobald

Wer stellt solche Zertifikate aus?

Institutionen wie unsere Denkfabrik arbeiten an solchen Labels, mit denen wir Nachhaltigkeit sichtbar machen wollen. Wir werden, auch mit Partnern, versuchen, ungefähr in fünf Jahren Sportartikel, Veranstalter und Infrastruktur zu labeln. Das können Sie sich ähnlich wie den Nutriscore vorstellen, mit einem farbigen Balken, sodass man direkt erkennt, in welchem Global Score beispielsweise eine Veranstaltung gerankt ist. Darunter wird es eine Reihe von Kriterien, wo mit Balkenlängen und -farben sichtbar gemacht wird, welcher Prozentsatz an Nachhaltigkeit in bestimmten Bereichen erreicht wird, zum Beispiel: Mobilität 80%, Material 70% und so weiter. So kann man erkennen, wie sich der Gesamt-Score zusammensetzt. Über einen zusätzlichen QR-Code kann der interessierte Athlet oder Zuschauer außerdem nachlesen, wie diese Rankings zustande gekommen sind. Das gibt es im Moment noch nicht. Wir orientieren uns dabei auch an den Maßgaben bereits bestehender Siegel, deren Verfahrensweisen, Daten zu erheben und zu bewerten, und versuchen das auf Produkte und Veranstaltungen anzulegen.

Widmen wir uns der Ausrüstung, also den Produkten: Welche Ansätze gibt es hier auf Herstellerseite und wie effektiv sind sie?

Nachhaltigkeit ist zu einem bestimmenden strategischen Thema in der Sportartikelindustrie geworden. Vor allem die Zielgruppe der Generation Z beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und erwartet von der Industrie Lösungsansätze. Generell lassen sich hierbei vier große Themenbereiche darstellen. In der Materialentwicklung wird zunehmend auf den Einsatz recycelter Bestandteile Wert gelegt. Auch die Erforschung biobasierter Grundstoffe geht voran. Die Messung und Verringerung des Kohlendioxidausstoßes (Carbon Footprint) entlang der Wertschöpfungskette ist ein weiterer Schwerpunkt. Wir wissen, dass der Carbon Footprint zu etwa 80% bei der Materialherstellung entsteht. Unter diesem Aspekt werden auch Möglichkeiten zur Verkürzung der Lieferwege interessant. Lösungen für das Ende des Produktlebenszyklus zu erarbeiten ist ein weiterer Aspekt. Hier sind vor allem Ideen gefragt, wie sich Produkte zurückführen und in seine Bestandteile zerlegen lassen. In diesem Kontext werden auch Subskriptionsmodelle zukünftig eine Rolle spielen. Darüber hinaus beschäftigten sich die Sportartikelfirmen mit Strategien, Produkte haltbarer zu machen, also die Produktlebensdauer zu erhöhen.

Die Herstellung des Produktes bestimmt also maßgeblich seinen Fußabdruck, nicht so sehr die Materialien? Gerade auf Letzteren liegt ja in der Kommunikation ein großer Fokus, Stichworte Meeresplastik oder Bioplastik.

Ich sag mal so: Materialien zu ersetzen ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Es gibt viele, die den großen Firmen diesbezüglich Greenwashing vorwerfen. Dieser Vorwurf ist leicht ausgesprochen. Aber tatsächlich muss man sich so eine Firma als Riesentanker vorstellen – der kann nicht leicht die Richtung ändern. Aber es gibt Versuche, die Richtung zu ändern. Und ich denke, die muss man auch würdigen. Wenn jetzt eine Firma einen problematischen Grundstoff vermeidet, dann ist das ein guter Schritt in die richtige Richtung. Kunden, in unserem Fall Sportler, sehen ja in der Regel nur das Produkt, das bei ihnen ankommt. Mit der Beziehung unserer Denkfabrik zu einer führenden Marke der Sportartikelindustrie haben wir zum Glück die Chance, ein bisschen hinter die Kulissen zu schauen. Und da sieht man, dass es ein Riesenteam in der Abteilung Nachhaltigkeitsmanagement gibt, die mit großen Anstrengungen an dem Thema arbeiten. Denn da geht’s um ökonomische Nachhaltigkeit. Da geht’s darum, „Wie behalten wir unsere Kunden?“, „Wie vermeiden wir es, dass sie das Gefühl haben, wir machen nur Greenwashing, und sich einem anderen Hersteller zuwenden?“. Es gibt ja eine ganze Reihe von jungen Herstellern, die versuchen, an dieser Stelle den Global Playern den Rang abzulaufen. Deswegen müssen deren Versuche auch nachhaltig sein, denn sonst verlieren sie im Laufe der Zeit Kunden. Wir sehen schon solche Wanderungsbewegungen, dass manche Sportler bei bestimmten Herstellern gar nicht mehr einkaufen.

Wie kann ich als Läuferin oder Läufer mit überschaubarem Aufwand erkennen, ob ein Produkt aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten gut ist oder nicht?

Es gibt ein Münchner Start-up, PLANETICS, mit denen wir kooperieren, die versuchen das gerade. Sie treten mit einem bestimmten Anspruch an Hersteller heran und lassen sich dies oder jenes nachweisen. Das wird hausintern gerankt und entschieden, ob dieses Produkt oder jener Hersteller für sie infrage kommt und in ihr Programm aufgenommen wird. Dieser Markplatz ist – wenn man so will – das Amazon für nachhaltige Sportprodukte. Bislang haben sie zwar noch keine besonders breite Palette, aber sie haben den Anspruch an sich selbst, sowas zu werden. Auf der Homepage gibt es eine Subpage „Auswahlkriterien“ mit verschiedenen Icons und Beschreibungen. Mit diesen Symbolen werden bestimmte Werte zum Ausdruck gebracht. Also beispielsweise ein Produktwert, ein Transportwert, ein Menschenwert – heißt: unter welchen Bedingungen arbeiten die Menschen, die dieses Produkt herstellen. An den Icons kann man feststellen, wie diese Firma die Nachhaltigkeit des Produkts einschätzt und weswegen sie sich dafür entschieden hat, dieses Produkt in ihr Programm aufzunehmen. Es gibt bislang ein paar wenige solcher Marktplätze, wo man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie transparent sind, und dass die dort angebotenen Produkte tatsächlich empfehlenswert sind, in Hinsicht auf Nachhaltigkeit.

Welche Marktplätze sind das neben Planetics?

Nachhaltige Sportprodukte findet man außer bei PLANETICS auch bei Runamics, Winqs, im Avocado Store, bei nachhaltige-sportbekleidung.de, Edelkraft, Vidar Sport, Othersports, FutureSportsProducts, LiveVERDE, Re-Athlete. Einen aktuellen Überblick über solche Marktplätze findet man bei thegoodtrade.

Wir wissen aber auch, dass letztlich für den Konsumenten andere Kriterien entscheiden. Wir haben in mehreren Studien versucht rauszufinden, wie am Ende die Kaufentscheidung zustande kommt. Dabei haben wir festgestellt, dass Sportler ein hohes Bewusstsein für Nachhaltigkeit haben, aber die Lücke zwischen Bewusstsein und Handeln trotzdem noch groß ist. Preis und Passform sind entscheidender, in erster Linie die Passform. Das heißt, wenn der Schuh super passt, spielt der Preis eine nachgeordnete Rolle. Nachhaltigkeit liegt noch viel weiter hinten. Wenn der Schuh nicht passt, dann kann er so nachhaltig sein, wie er will, Sie kaufen ihn trotzdem nicht. Das liegt einfach daran, dass wir Hunderte von Kilometern in dem Schuh laufen und uns darin wohlfühlen wollen. Die Reise dahin, dass der Schuh, der mir passt, auch noch erschwinglich und nachhaltig ist, dauert noch. Das muss man wirklich sagen. Aber wir spüren, dass die Sportler das wollen. Das sehen wir in unseren Befragungen.

Wie sehen Sie außerhalb solcher Nischen die Situation insgesamt im Handel?

Es ist so, dass Alternativen vorliegen. Wenn ich es will, dann kann ich mich durchsuchen durch diese Alternativen und schauen, ob mir vielleicht dieser andere Schuh doch genauso gut passt wie der, den ich bis jetzt gekauft hab. Ich zum Beispiel laufe am liebsten in den Schuhen einer führenden Marke – deren Leisten ist wie für mich gemacht. Mit einem neuen Schuh dieser Marke kann ich ohne Socken 10 Kilometer laufen. Das ist ja das, was ich will – mich um nichts kümmern. Ich müsste jetzt so lange Schuhe von anderen Herstellern probieren, bis ich dasselbe Gefühl habe wie in meinem Schuh. Diese Möglichkeiten gibt’s, aber unter uns gesprochen: Wer von uns nimmt das denn auf sich, diese Schuhe alle durchzuprobieren? Ich müsste sie im Onlinehandel bestellen, probieren und wieder zurücksenden, habe durch Lieferung und Rücksendung auch einen Impact. Vielleicht rechnet es sich tatsächlich, aber plausibel ist das für uns nicht. Ich würde mir als Läufer nicht zehn Paar Schuhe bestellen, auf die Gefahr hin, dass ich sie wieder zurückschicken muss, bloß um einen zu finden, der mir genauso passt wie mein Schuh. Es ist noch ein weiter Weg. Aber je mehr Alternativen auf den Plan treten, und je mehr Vielfalt mir das Sporthaus in meinem Ort anbieten kann, desto schneller wird die Entwicklung fortschreiten.

Und desto mehr werden die großen Hersteller auch den Druck verspüren, ihre Produkte nachhaltiger zu gestalten?

Ja. Und nach den Signalen, die wir aus der Sportartikelindustrie empfangen, können wir davon ausgehen, dass dieser Anspruch schon längst angekommen ist.

Sportwissenschaftler Prof. Dr. Peter Kuhn von der Universität Bayreuth
Manu Theobald

Gibt oder bräuchte es politische Initiativen zu mehr Nachhaltigkeit im Sport allgemein oder konkret im Laufsport?

Ja. Ich persönlich stehe auf dem Standpunkt, dass wir den Konsumenten erlösen müssen, aber damit bin ich nicht allein. Diese Formel ist von Michael Kopatz. Er hat das Buch „Ökoroutine“ geschrieben, das ist 2016 erschienen. Als ich das Buch gesehen hab, dachte ich sofort: „Ja! Endlich schreibt’s mal jemand hin!“ Meine erste Forschung stammt ja vom Anfang der 90er Jahre. Damals plädierte ich auf den letzten 25 Seiten meiner Dissertation dafür, die Strukturen zu ändern. Denn ich hatte in meiner Forschung gesehen, dass, wenn es unterschiedliche Strukturen gibt, Sportler auf die jeweils nachhaltigere Struktur zugreifen. Beispielsweise fahren Sportler*innen, die in einem Großraum leben, nachweislich häufiger mit dem Nahverkehr als Menschen, die in einem dünnbesiedelten Raum leben. Und da, wo es Rücknahmesysteme für Sportmaterialien gibt, werden sie auch genutzt. Das konnte ich schon in den 90er Jahren zeigen. Und deswegen habe ich dafür plädiert, dass wir Strukturen verändern. Und Strukturen ändern sich nur politisch, in diesem Fall sportpolitisch. Das heißt, wenn es solche Vorgaben gibt, dann gehen die Menschen auch mit. Das ist etwas, woran wir im Moment auch arbeiten, zusammen mit größeren Verbänden, beispielsweise Landesverbänden. Einfach um Strukturen zu schaffen, in denen sich die Menschen so verhalten, wie sie es aus ökologischer Sicht für richtig halten. Und deshalb sage ich ganz klar zu Ihrer Frage: Ja, wir müssen sportpolitisch agieren.

Sie haben kürzlich mit Kolleginnen und Kollegen think.sportainable gegründet, die Denkfabrik des nachhaltigen Sports, so der Slogan. Wie kam es zur Gründung und was hat es damit auf sich?

Der Grund für die Gründung ist, dass wir gesehen haben, dass wir mit dem sportwissenschaftlichen Know-how sehr schnell an eine Grenze stoßen. Wir brauchen zum Beispiel Chemiker oder Verkehrsplaner, die uns helfen, zu Lösungen für unsere Fragestellungen zu kommen. So haben wir, eine Gruppe von Sportwissenschaftlern, einfach Kollegen gefragt und gemerkt, dass überall Interesse an der Thematik der nachhaltigen Entwicklung des Sports besteht. Da war der Schritt, eine Denkfabrik zu gründen, naheliegend. Es gibt Vorbilder, wie zum Beispiel das Wuppertal-Institut oder Agora Energiewende, die Menschen mit unterschiedlicher Expertise zusammenbringen.

Zudem können wir nicht nur Menschen unterschiedlicher wissenschaftlicher Expertise zusammenbringen, sondern auch Wissenschaftler mit Praktikern, etwa Unternehmern, Vereinsvorständen oder Sportlern selbst. So haben wir in der Denkfabrik eine insgesamt viel größere Expertise als wir sie in unserem universitären Elfenbeinturm hätten. Letztlich „Schuld“ ist aber eigentlich Greta Thunberg. Ich habe vor 30 Jahren angefangen mit dieser Forschung. Auch damals habe ich schon versucht, an die Verbände heranzutreten oder an politische Entscheidungspersonen, ich habe aber gespürt, dass die Türen da noch nicht offen waren. Die Zeit war noch nicht reif.

Also habe ich das Thema in die Schublade gesteckt, bis die Zeit reif war. Und Greta Thunberg hat tatsächlich die Wende gebracht. Seitdem die jungen Menschen auf die Straße gehen, die dann auch bei uns als Studierende ankommen, wächst das Thema immer stärker. Das Interesse wird immer größer, das öffentliche Interesse und natürlich auch das wissenschaftliche Interesse. Deswegen kann man das Thema seit 2018 offensiv spielen. Das hat letztlich dazu geführt, zu schauen, was in dem wissenschaftlichen Zusammenhang, in dem ich mich bewege, möglich ist. So kam es folgerichtig zur Gründung dieser Denkfabrik.

Für die Zukunft haben Sie schon Nachhaltigkeits-Siegel angekündigt. Welche für den Laufsport interessante Forschungsansätze oder Initiativen von think.sportainable gibt es noch?

Wir werden zeigen, wie man Großveranstaltungen wirklich nachhaltig machen kann. Was wir gerade mit dem Allgäu-Triathlon lernen, wird für alle Laufgroßveranstaltungen interessant sein, weil es fast 1:1 übertragbar ist.

In Bezug auf Materialentwicklung wird beispielsweise mit alternativen Kunst- und Naturstoffen experimentiert, aber viele von denen sind noch nicht skalierbar. Große Hersteller versuchen auch, die Produktlebenszyklen zu verlängern, indem sie die Produkte wieder zurückholen – Stichwort: Circular Economy. Läufer, die ja einen relativ hohen Verbrauch an Laufschuhen haben, werden in absehbarer Zeit die Möglichkeit haben, einfach alle ihre Laufschuhe wieder zurückzugeben. An dem Projekt „Sneaker-Jagd“ der ZEIT sehen wir, dass es noch nicht so gut funktioniert, wie wir uns das wünschen. Aber das wird kommen. Wir werden innerhalb von einer Dekade alle unsere Laufschuhe wieder zurückgeben, und dasselbe gilt für Shirts und Shorts. Bei uns arbeiten Kollegen aus Sporttechnologie und Chemie zusammen am Ersatz von Materialien und am Recycling von Materialien. Und auch wenn der Breitensportläufer nicht so viele Schuhe braucht, wird es auch in den Breitensport durchschlagen.

Wir werden neue Mobilitätskonzepte haben. Ein Verkehrsplaner, Manfred Miosga, arbeitet mit uns an der Frage, wie man die Sportler auf die Schiene bringt. Wir haben beispielsweise anlässlich des 9-Euro-Tickets eine Studie aufgelegt, um zu erfahren, ob das 9-Euro-Ticket das Mobilitätsverhalten der Sportler verändert. Wir werden wahrscheinlich sehen, dass mehr Sportler auf dieses Ticket zugreifen. Ob es nachhaltig ist, wenn wieder der Normalpreis gezahlt wird, können wir noch nicht sagen. Aber wir können sagen, wenn es ein Sportlerticket gibt, dass dann wahrscheinlich Sportler darauf zugreifen. Für den Laufsport würde das bedeuten, dass Treffen mit der Laufgruppe oder befreundeten Läufern in einer anderen Stadt sich besser mit dem öffentlichen Verkehr organisieren lassen werden. Davon können wir ausgehen.

Zuletzt noch ein Ausblick auf ein groß angelegtes Forschungsprogramm „The Sport‘s Race to Zero“. Die Kampagne Race to Zero von den Vereinten Nationen bezieht sich nicht nur auf den Sport, sondern insgesamt auf die Menschheit. Aber weil der Sport die Kraft hat, die Welt zu verändern – das ist ein Zitat von Nelson Mandela –, könnte es sein, dass sich große Sportorganisationen dazu entschließen, hier voranzugehen. Der Laufsport ist in dieser Hinsicht symbolhaft. Wir versuchen, zu diesem Ziel zu kommen, möglichst schnell, und deswegen könnte es sein, dass auch solche Organisationen wie wir mit unserer Denkfabrik irgendwann beschließen, auf den Laufsport zuzugehen und zu sagen: Leute, macht das mit uns! Denn an eurem Sport kann man besonders gut sehen, was es bedeutet, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Der Laufsport ist plakativ. Wir entschließen uns jetzt möglichst schnell, dahin zu kommen. Wenn es uns gelingt, dieses Forschungsprojekt zu finanzieren und aufzulegen, dann könnte Ihr Sport derjenige sein, mit dem wir das darstellen wollen.

Das hören wir gern!

Einfach, weil der Laufsport das so symbolisch zeigt. Wir alle haben ja diese Bilder im Kopf, von großen Läufen, wo wir über Minuten, manchmal Stunden die Athleten begleiten und spüren, welche Arbeit, welche Anstrengung das ist, was das bedeutet, sich so für ein Ziel zu engagieren. Und das passt einfach so gut zu diesem Race to Zero, zu dieser Idee der Menschheit, nachhaltig zu werden, dass es wirklich sein kann, dass der Laufsport die Symbolsportart für diese Menschheitsaufgabe werden wird.

Sportwissenschaftler Prof. Dr. Peter Kuhn von der Universität Bayreuth
Manu Theobald
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04 / 2023

Erscheinungsdatum 16.03.2023

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