„Leukämie? Wieso ich? Ich bin doch schlank, sportlich und lebe gesund! Diese Frage habe ich mir zuerst gestellt, als ich am 4. Januar letzten Jahres die Diagnose bekam“, erzählt Simone. Die 46-jährige Mediengestalterin aus Vaihingen an der Enz erkrankte vor anderthalb Jahren an chronischer myeloischer Leukämie (CML). Doch es kam nicht völlig überraschend. „Es gab so viele Anzeichen. Das ganze Jahr 2017 über konnte ich nicht einen Wettkampf laufen. Es begann mit Nackenschmerzen, dann hatte ich ungewöhnlich große blaue Flecken. Meine Hausärztin vermutete eine Mückenstich-Allergie, sie nahm daher kein Blut ab. Ein Blutbild hätte sofort Aufschluss gegeben. Dumm gelaufen“, berichtet Simone.
„Das Laufen war meine Rettung in der harten Zeit“
Im Januar 2018 war Simones linke Körperseite geschwollen, die Milz stark vergrößert, was ein Anzeichen für Leukämie sein kann. Ihre Hausärztin überwies sie ins Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Nach einer Knochenmarkpunktion war sofort klar, dass es CML ist. CML verläuft in drei Phasen: „Ich befand mich zum Zeitpunkt der Diagnose schon im dritten, kritischen Stadium“, sagt Simone.
Der Wert für die Leukozyten war viel zu hoch. Die auch als weiße Blutkörperchen bekannten Blutzellen sind im Körper für die Immunabwehr zuständig. Bei der CML werden zu viele davon im Knochenmark gebildet. Normalerweise entwickeln sich Knochenmarkzellen zu verschiedenen Typen von Blutzellen. Bei der CML ist diese Blutbildung jedoch stark gesteigert; es befinden sich kranke Zellen im Blut und im Knochenmark. Die meisten Patienten mit CML weisen in ihren Leukämiezellen das entartete Philadelphia-Chromosom auf.
Die ersten Menschen, mit denen Simone über ihren Befund sprach, waren ihre beiden Söhne. Eine Spendersuche über die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) wurde sofort eingeleitet – doch die Warterei auf einen geeigneten Spender und eine anschließende Knochenmarktransplantation blieben ihr am Ende erspart: Simone hatte Glück im Unglück, „denn seit 2001 lässt sich diese Art der Leukämie auch mit Tabletten behandeln, sofern der Patient darauf anspricht. Das dauerte bei mir zwar einige Wochen, aber es funktionierte“, sagt sie.
Den ganzen Januar über lief sie – trotz Krankschreibung – weiter wie bisher: vier- bis fünfmal pro Woche, meistens 10-Kilometer-Läufe in lockerem Tempo. „Das Laufen war meine Rettung in der harten Zeit, dabei konnte ich meine Probleme hinter mir lassen.“ Auch danach trainierte sie wie gewohnt weiter. „Der einzige Unterschied: Ich ging nicht mehr an meine Grenzen, lief langsamer als zuvor, aber die gleichen Umfänge“, erzählt Simone. „Mein Krankheitsverlauf von Januar 2018 bis heute ist geprägt durch ein ständiges Auf und Ab. Dennoch habe ich während dieser ganzen Zeit meine Lauferei – auch auf Anraten meiner Ärzte – nicht aufgegeben. Warum sollte ich auch auf etwas verzichten, das mir seit so vielen Jahren guttut?“
„Ich stopfe den Tag nicht mehr mit Verpflichtungen voll.“
Simone läuft seit über 15 Jahren, absolvierte viele Volksläufe, darunter drei Marathons und über 15 Halbmarathons. 2016 erreichte sie mit 1:45 Stunden ihre Halbmarathon-Bestzeit, 2017 folgte das Wettkampf-Pausenjahr. 2018 finishte sie den Halbmarathon in Stuttgart in 2:05 Stunden – genau sechs Monate nach ihrer Diagnose. „Da habe ich es locker angehen lassen.“ Dieses Jahr erreichte sie sechs Minuten schneller das Ziel, aber genauso entspannt. Trainings- und Wettkampfzeiten muss sie auf die Tabletteneinnahme abstimmen: „Das ist nicht so einfach, die muss ich im Zwölf-Stunden-Rhythmus einnehmen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass ich zwei Stunden vorher und bis eine Stunde danach nichts essen darf.“
Was hat die Leukämie in ihrem Leben verändert? „Vorher war ich ein Kontrollfreak. Durch die Krankheit habe ich gelernt, dass es Dinge im Leben gibt, die wir Menschen nicht beeinflussen können. 2018 war bei mir Schluss mit der Kontrolle, von da an war nur noch Überleben und Leben im Moment angesagt.“ Simone gestaltet ihren Alltag heute anders: „Ich stopfe den Tag nicht mehr mit Verpflichtungen voll.“ Am liebsten mag sie es, wenn ihr Tag mit etwas Schönem beginnt, einer Belohnung: „Am besten gleich frühmorgens eine Runde laufen.“
Bald erfüllt sie sich ihren größten Lauftraum: Im November startet Simone beim New-York-Marathon. „Mit meiner Geschichte möchte ich anderen chronisch Erkrankten Mut machen, ihre Hobbys und Träume nie aufzugeben.“ Die Ärzte gaben grünes Licht für den Marathon, denn ihr Blutbild verbesserte sich in den vergangenen anderthalb Jahren stark. Das 16-wöchige Marathon-Training für New York hat bereits begonnen …