Laufikone Kathrine Switzer im Interview

Laufikone Kathrine Switzer im Interview
„Ich habe immer Chancen geschaffen, dass Frauen laufen können“

ArtikeldatumVeröffentlicht am 03.10.2025
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Katherine Switzer
Foto: Ursula Thomas-Stein

Wer an diesem Freitagnachmittag vor dem Berlin Marathon durch die Ausstellung „Iconic“ im Drive Studio von VW streift, braucht einen Moment. Oder zwei. Um den Rummel um das Exponat „Kathrine Switzer“ zu verstehen. Die Stele ist zwischen einer Darstellung des diamantbesetzten Totenkopfs von Damien Hirst und diversen anderen Kultobjekten aus Kultur, Gesellschaft und Mobilität platziert – wie es der englische Untertitel im VW-Showroom verheißt: „A Timeless Journey of Culture, Society and Mobility“.

Zeitlos passt. Kathrine Switzer (78), die Frau mit der weißen Mähne im eleganten Sportdress steht live vor ihrer Steele, die sie mit einer dramatischen Fotoserie würdigt – als junge Läuferin mit der Startnummer 261. Ein Sportfotograf hatte 1967 festgehalten, wie Switzer beim Boston Marathon, damals ein reiner Männerlauf, angegriffen wurde. Sie beendete den Marathon trotzdem und setzt sich seither für den Frauenlaufsport ein. Jetzt ist sie umringt von Fans und Besucherinnen, die zu dem Event ihrer Non-Profit-Organisation 261 Fearless geladen sind. Gut gelaunt und geduldig lässt sie Fotos machen.

Unsere Autorin Ursula Thomas-Stein hat Kathrine Switzer hier getroffen und mit ihr über ihre Rolle als Ikone des Frauenlaufsports und die gemeinnützige Organisation 261 Fearless gesprochen.

Kathrine, du wirst hier als Ikone des Frauenlaufsports gefeiert – wie fühlt sich das an?

Teil dieser Ausstellung zu sein, ist wirklich großartig. Es ist eine tolle Anerkennung dafür, was wir im Frauenlaufsport alles erreicht haben – da war ich nicht alleine. Einige Frauen sind in den 1960er Jahren schon heimlich mitgelaufen, haben sich am Start dazugestellt oder kamen irgendwann aus den Büschen. Ich bin nur die erste Frau die mit einer offiziellen Startnummer lief. Es war ein Glück, dass Harry Trask, der Sportfotograf, die Fotos gemacht hat. Wir mussten Barrieren einreißen, auch für alle Läuferinnen nach uns.

Heute sind 35 Prozent der Startenden beim Berlin Marathon Frauen …

Interessant, beim New-York-City-Marathon starten schon mehr Frauen als Männer. Also, Laufen ist für alle Menschen wichtig – allein schon als Erfolgserlebnis. Aber auch chemisch. Endorphine, werden frei, spenden Kraft und Energie. Bei großen Events spielen Frauen heute auch wirtschaftlich eine große Rolle. Ich hatte 1974 den New-York-City-Marathon gewonnen, damals waren wir 28 Läuferinnen, das war schon immens. Es war auch das Jahr, in dem Frauen in den USA erstmals eigene Kreditkarten bekommen durften. Letztes Jahr, als ich in New York mein 50. Jubiläum feierte, waren 28.000 Frauen am Start. Und ich wette, dass jede von ihnen eine Kreditkarte hat. Frauen haben heute auch finanziell großen Einfluss.

Katherine Switzer
Ursula Thomas-Stein

Wie kam es zu eurer non-profit Organisation 261 Fearless Inc.?

Das fing 2012 beim Frauenlauf Österreich an. Da wurde ich bei der Pressekonferenz mit der Elite gebeten, etwas zu sagen. Ich richtete mich speziell an die Athletinnen: „Ihr Elitefrauen überlegt euch, was ihr nach eurer sportlichen Karriere macht. Der Frauensport braucht kreative starke Führungspersönlichkeiten wie euch, die Chancen schaffen.“ Und ich habe ihnen erzählt, wie ich Ende der 1970er Jahre ein weltweites Frauenlaufprogramm entwickelt habe, das den Start des Frauenmarathons bei den Olympischen Spielen 1984 erwirkt hat.

Als Sportdirektorin einer Kosmetikfirma hattest du 400 Läufe in 27 Ländern organisiert …

Ja, das kam in der Runde gut an, aber ich merkte, dass alle noch auf ihre Laufkarriere konzentriert sind. Ich habe ihnen dann noch etwas erzählt, das mich persönlich bewegte: Dass ich Briefe und E-Mails bekam, Leute schrieben mir, dass die Nummer 261 sie inspirierte und furchtlos machte, dass sie die Nummer auf dem Rücken tragen würden zum Beispiel beim New-York-City-Marathon. Oder sie würden sie auf ihren Arm malen bei einem Triathlon. Es kamen auch Fotos von Tatoos mit der 261.

Die Nummer 261 also für den Mut zu laufen?

Genau. Nach der Pressekonferenz kam die Journalistin und Athletik-Trainerin Edith Zuschmann auf mich zu: „Was du über die Laufnummer gesagt hast, ist ganz stark. Du könntest das Leben vieler Frauen ändern.“ Das fand ich auch – aber wie? Nicht alle Frauen sind erreichbar, Frauen mit Burkas in Afghanistan werden die Message nicht bekommen. Edith widersprach. „Doch, über ihre Handys. In einer Gruppe von zehn Frauen, egal wie arm sie sind, wird eine Frau ein Handy haben. Sie sind erreichbar.“ Edith rief mich am nächsten Morgen an und hatte alles schon durchdacht: Ein Ausbildungskonzept, Laufclubs, Coaches, die wir ausbilden. Aber ein neues Business gründen wollte ich nicht, doch die Idee ließ mich nicht los – Edith auch nicht.

Edith Zuschmann
Ursula Thomas-Stein

Sie startete den ersten 261 Fearless Club in Klagenfurt?

Richtig – noch im selben Jahr besuchte ich Ediths Laufclub. Es war großartig: Mädchen und Frauen in 261-Shirts, die zusammen Läufe machen und Ediths Coaching-Programm folgen. Das hat mich überzeugt. Mir war aber klar, dass wir eine größere Struktur bräuchten. Nicht als Unternehmen, sondern als gemeinnützige Organisation. Nur: Ich weiß alles über Marketing und Sportförderung, aber nichts über die Non-profit-Welt.

Wie habt ihr euch schlau gemacht?

Inzwischen waren wir schon ein kleines Team und haben uns von den Führungskräften der „Girls on the Run“ intensiv coachen lassen, wie so eine Non-Profit-Organisation funktioniert. „Girls on the run“ sind ein außerschulisches US-amerikanisches Programm, das junge Mädchen vor allem mit Lauf-Angeboten fördert. Sie schuldeten mir noch einen kleinen Gefallen wegen ein paar Reden, die ich gehalten hatte. Und wir stellten eine Menge Fragen – wie geht man mit dem Leichtathletikverband um, wie mit Versicherungen, und, und, und. Nach dem Workshop waren wir hirntot. (lacht)

Und bereit für die Gründung?

Also, ich nicht. Am nächsten Tag habe ich meinem Team gesagt: „Okay, ich will es nicht machen. Ich gebe euch gerne meinen Namen und meine Laufnummer. Ich bin gerne Sprecherin. Aber ich will das nicht für den Rest meines Lebens machen. Ich will weiter Bücher schreiben und Reden halten. Ich kann das alles zum Vorteil von „261 Fearless“ nutzen, aber ich habe keine Zeit für die Details. Edith nahm den schwarzen Marker, ging zum Whiteboard und sagte: Gut, wir machen es so und so und so. Und deshalb ist sie CEO und Präsidentin der 261 Fearless Inc!

Welche Funktion hast du offiziell?

Ich bin Board Chair, also Vorstandsvorsitzende. Und entgegen meinem eigenen Vorsatz, arbeite härter als je zuvor. (lacht wieder)

Was habt ihr mit 261 Fearless bisher erreicht?

Sehr viel. Wir haben in den letzten zehn Jahren über 500 Frauen weltweit zu 261 Fearless Coaches ausgebildet. Aktuell sind über 200 unserer Coaches aktiv. Und seit 2016 haben schon mehr als 6000 Frauen an unseren Laufprogrammen in den lokalen Clubs teilgenommen. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel begonnen, mit einer 15-köpfigen Gruppe afghanischer Frauen im Club in Wien zu trainieren. Sie waren vor den Taliban geflohen und hatten noch nie die Chance zu laufen. Trotz der Hitze zogen sie die 261-T-Shirts einfach über die Kleidung – und los ging‘s. Eine von ihnen ist inzwischen eine unserer besten Coaches. 261 Fearless ist ein Willkommensort, der Frauen bewegt und fördert.

Hast du einen Rat für Frauen, die nicht laufen können oder wollen?

Wir hören immer wieder: „Ich bin zu alt.“, „Ich bin zu dick.“ oder „Laufen ist nichts für mich“. Manchmal reicht aber schon ein „Komm schon!“ Manche Frauen haben keine Freunde und trauen sich einfach nicht. Wenn wir jemanden ansprechen und sagen, „Komm, mach einen Lauf mit mir oder lass uns walken.“ Dann wird die Person vielleicht doch mal mitgehen und durch die Bewegung und die Community bestärkt werden. Es ist wichtig, Frauen zu unterstützen. Die Frauen in unseren 261 Clubs sind Freunde.

Und wie sieht es bei dir mit Laufen aus, Kathrine?

Ich bin mit 70 nochmal den Boston-Marathon gelaufen – 50 Jahre nach dem Vorfall von Boston. Und meine 10-Kilometer-Zeit liegt aktuell unter einer Stunde. Also, ich denke, in einer perfekten Welt – wenn ich ganz gesund bin, gut schlafen kann und Zeit für die Vorbereitung habe, würde ich mit 80 noch einen Marathon laufen.

Würdest du alles wieder so machen – seit dem Vorfall in Boston?

Auf jeden Fall. Es war schon so, dass ich damals richtig Angst hatte. Als mich der Renndirektor angriff, sah ich sein verzerrtes Gesicht. Das war krass. Aber ich habe mich durchgekämpft. Ich habe die 261 nicht berühmt gemacht – es sind die Leute, die mir schreiben, dass die Nummer sie stark und furchtlos macht.

Ursula Thomas-Stein und Katherine Switzer
Katja Kühnrich

Über 261 Fearless Inc.

Gegründet: 2015 als gemeinnützige Organisation, die ein weltweites Frauen-Lauf-Netzwerk bietet mit Lauftreffs und Motivationsprogramm in lokalen 261 Clubs; jede Frau ab18 Jahren kann mitmachen

Gründerinnen: Kathrine Switzer und Edith Zuschmann

Mission: Frauen durch Laufen und Wissensvermittlung zu empowern und ihnen Mut für neue Ziele zu geben

Team: 12 Mastercoaches leiten die Ausbildungsprogramme der 261 Fearless Coaches

Teilnehmerinnen: derzeit sind über 1000 Frauen in den Clubs aktiv, im Alter von18 bis 68 Jahren; sie werden von mehr als 200 zertifizierten Coaches angeleitet

261 Clubs: werden von Frauen lokal gegründet; aktuell: 18 Laufclubs in 14 Ländern auf 5 Kontinenten – von Albanien bis Neuseeland

Beispiel 261 Clubs Deutschland: eingetragener Verein mit aktuell 4 Clubs in Berlin, Radebeul, Otterfing (Bayern) und Hamburg; 11 Coaches leiten diese Lauftreffs mit 65 Mitgliedern

Teilnahmegebühren: Der 261 Club Deutschland bittet um einen Unkostenbeitrag (Mitgliedgebühr) von 30 Euro / Jahr

Online-Bewegungsprogramm: „Activate You!“ für 12 Wochen, 0,99 Euro / Tag

Finanzierung: Ehrenamtliche Arbeit, Spenden und Kooperationen mit Laufevent-Veranstaltern wie New York Road Runners oder Boston Athletik Association sowie Unternehmen wie Adidas oder Peloton

Organisations-Sitz: Flanders, New Jersey, USA