Yasemin Beyaz, 43, Zahnarzt-Praxis-Managerin aus Berlin schob ihren Sohn Efe-Tan, 10, vor fünf Jahren zum ersten Mal bei einem Mini-Marathon über die Ziellinie. Efe-Tan, der mit einer ungeklärten Muskelschwäche geboren wurde und auf einen Rollstuhll angewiesen ist, war von der Stimmung elektrisiert. Es begann eine gemeinsame Leidenschaft. Seither nahmen Mutter und Sohn als Lauf-Roll-Team an etlichen Veranstaltungen teil. Und das nächste Ziel haben sie schon anvisiert.
„Laufen ist für uns eine Art Therapie, denn es ist unsere gemeinsame Zeit. Wir sind zusammen draußen und unterhalten uns über alles Mögliche“, sagt Yasemin. Beim Laufen mit Efe-Tan begegnet sie zwar ständig Hürden, wie etwa Treppen. Doch Yasemin ist nicht der Typ Mensch, der daran verzweifelt. Sie betrachtet Hindernisse als Herausforderung: „Wenn ich eine Laufpartnerin dabeihabe, machen wir mit Efe-Tan im Rollstuhl an der Treppe Gewichtstraining, indem wir ihn hochtragen.“
Yasemin ist nicht nur körperlich eine starke Frau: Die alleinerziehende Mutter erlebte nach der Geburt ihres Sohnes extreme Gemütsschwankungen. Den Richtungswechsel zum Positiven in der Denkweise verdankt sie ihrem Sohn. „Ich bin die Mutter und erziehe ihn, aber auch er hat mir vieles beigebracht und mich erzogen“, sagt sie. Kurz nach der Geburt dachte sie häufig: Warum gerade ich? „Es war eine Gefühlsachterbahnfahrt, denn die Ärzte konnten mir nicht sagen, was er hat. Sie sagten mir dafür aber voraus, was er alles nicht können wird.“
Mithilfe des Laufens wurde aus Verzweiflung Entschlossenheit und Glück
Zuerst war sie ganz durcheinander, doch dann folgte Yasemin ihrer Intuition, der einer liebenden Mutter, und übernahm die Pflege ihres Sohnes selbst. „Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich die Situation nicht ändern kann, also habe ich sie angenommen und das Beste daraus gemacht“, erzählt sie. Bei diesem Prozess der Annahme ihres Lebens half ihr das Laufen. Yasemin war bereits vor Efe-Tans Geburt dem Laufsport zugeneigt. Seit rund fünf Jahren nimmt sie ihn mit auf ihre Laufrunden. Sie läuft regelmäßig drei- bis viermal wöchentlich, mindestens einmal rollt Efe-Tan mit. „Damit wollte ich ihm beibringen, dass er nicht ausgeschlossen wird, nur weil er nicht laufen kann.“
Das Gegenteil trat ein: Efe-Tan wird von den Läufern und Zuschauern gefeiert. „Alles begann 2014 mit dem Mini-Marathon in Berlin. Mein Sohn hatte so eine Freude an der 4,5-Kilometer-Strecke und den applaudierenden Zuschauern. Er steht dann ganz und gar im Mittelpunkt. Das genießt er.“ Efe-Tan und Yasemin waren schon beim 10-Kilometer-Lauf des Istanbul-Marathon dabei. Beim Halloween Run Berlin gingen sie als Hexe und Spiderman auf die Strecke. „Doch das schönste Lauferlebnis für uns beide war der Inklusionslauf auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, wo wirklich alle möglichen Menschen mitmachten, darunter Blinde, Rollstuhlfahrer, Einbeinige“, sagt sie.
Efe-Tan wiegt mit seinen zehn Jahren nur 23 Kilo. Das Leben der beiden ist gespickt mit Terminen: „Er hat jeden Tag Therapien, kann seinen Kopf nicht richtig halten, es fällt ihm schwer zu sitzen. Kognitiv ist Efe-Tan aber voll da. Er spricht vier Sprachen: Deutsch, Türkisch, Englisch und die Gebärdensprache“, berichtet die Mutter. Mithilfe eines Sprachcomputers kann er sich artikulieren.
„Wenn Efe-Tan seine Augen morgens aufmacht, strahlt er“
Efe-Tan besuchte einen ganz normalen Kindergarten und geht heute auf eine Schule mit gemischten Klassen, die für Inklusion und Integration steht. Mittlerweile geht er in die fünfte Klasse und hat viele Freunde mit und ohne Handicap. „Er ist ein geselliges und glückliches Kind. Wenn er seine Augen morgens aufmacht, strahlt er“, sagt Yasemin. Sie hat ihm viel ermöglicht und manches hart erkämpft. Oft war es ein steiniger Weg zum Ziel, aber das sieht man den beiden nicht an. Stattdessen strahlen sie eine Leichtigkeit aus, die ihre Mitmenschen sofort ansteckt.
Yasemin nahm ihren Sohn von Anfang an überallhin mit. „Bewegung ist genauso wichtig wie jede andere Art von Bildung – man kann Bewegung als eine Art Bildung bezeichnen, genau wie Sprachen. Wir rollen zum Sport, machen zusammen Rollstuhl-Basketball und Eishockey.“ Ihrem Sohn zuliebe absolvierte Yasemin sogar ein Hundetraining, obwohl sie zuvor Angst vor Hunden hatte.
Im Läuferfeld fühlen sich die beiden zu Hause. Da wird keiner ausgegrenzt
Den Umgang mit Behinderung in unserer Gesellschaft findet sie unreif: „Wenn man sich vorstellt, dass rund zwölf Prozent der Deutschen betroffen sind, ist es umso merkwürdiger, wie die Leute körperlich eingeschränkten Menschen begegnen. Kinderwagen finden alle sympathisch, beim Rollstuhl haben viele Berührungsängste und schauen bewusst weg. Warum eigentlich? Weil wir das mit falscher Scham kultiviert haben.“ Manche Menschen starren aber auch. Darauf hat das Mutter-Sohn-Gespann die passende Antwort: „Wir drehen uns um und schauen betont zurück, denn wir möchten offen mit Behinderung umgehen.“ Kinder, die neugierig fragen, warum Efe-Tan im Rollstuhl sitzt, sind den beiden am liebsten. „Das ist viel besser als die Scham, mit der Erwachsene oft reagieren, denn es entsteht eine Verbindung zueinander.“
Im Läuferfeld eines Events fühlen sich die beiden zu Hause. Da wird keiner ausgegrenzt. Mit ihrem superleichten Carbon-Rollstuhl, der vorn drei Räder hat, flitzen sie durch Stadt, Gelände und Wald – ihr nächstes Ziel schon fest vor Augen. „Das wird ein Halbmarathon sein, doch der geht ganz schön in die Arme“, sagt Yasemin. Efe-Tan ist startklar, aber sie muss bis dahin noch Armtraining machen.