Rock 'n' Roll Marathon Las Vegas 2019
Marathon in der Glücksspielmetropole

Am Ende einer leicht verkorksten Laufsaison flog unser Art Director in die Glücksspielmetropole. Und siehe da: Die schillernde Stadt und der ­äußerst entspannte Lauf versöhnten ihn mit seinem Sport
Rock 'n' Roll Las Vegas - Marathon, 1/2 Marathon & 10K
Foto: Getty Images / Privat

"Wow!", entfährt es mir, als die Maschine zum Landeanflug ansetzt. Wer das Glück hat, in der Abenddämmerung in Las Vegas anzukommen, dem präsentiert sich die Stadt schon aus der Luft in ihrer ganzen Pracht: Über dem Horizont liegt ein breites, glühendes Band, das sich in Sekundenschnelle von Glutorange über Tiefblau dem Schwarz der sich ankündigenden Nacht ergibt. Die im typischen Schachbrettmuster US-amerikanischer Städte angelegten Straßen bilden unter mir einen gelb-weißen Lichterteppich inmitten des Dunkels der Mojave-Wüste und der umliegenden, sich nur geisterhaft abzeichnenden Berge. Durchzogen wird er von der in allen Farben blinkenden Hauptschlagader der Glücksspiel-Metropole, dem Las-Vegas-Boulevard, hier nur schlicht als "The Strip" bekannt.

Tag 1: die Ankunft

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Das Wahrzeichen der Stadt

Der Blick von oben ist die Gelegenheit, mich schon mal mit der Strecke vertraut zu machen, die ich in drei Tagen zu bewältigen habe. Ein Hauch von Vorfreude mischt sich in die übliche Nervosität vor einem großen Lauf. Mein letzter Marathon in Berlin ist gerade mal sieben Wochen her. Dementsprechend kurz und zugegebenermaßen auch etwas nachlässig fiel die Vorbereitung aus. Aber da ich für mich beschlossen habe, dass die Zielzeit mir hier völlig egal sein wird und der Spaß und die Stimmung entlang der Strecke im Vordergrund stehen sollen, hält sich der "sportliche" Ehrgeiz in gesunden Grenzen. Mein Läufer-Mantra für Vegas lautet frei nach einem Neue-Deutsche-Welle-Song aus meiner Kindheit: "Ich will Spaß, geb kein Gas!"


Kaum vorbei am mit rund 350 Metern Höhe alles überragenden Stratosphere Tower ("The Strat"), setzt unser Flieger zur Landung an und gleitet auf dem Rollfeld des McCarran-Airports aus. Von hier aus ist es nur ein Katzensprung zum Strip. Doch nach 19 Stunden Flug wird Las Vegas heute Abend ohne mich auskommen müssen: Die Beine sind schwer, die Augen klein.


So dachte ich zumindest, denn Klaus Arendt, Chefredakteur eines Triathlon-Magazins und Mitglied unserer vierköpfigen Reisegruppe, erwartet mich beim Ausstieg und schmiedet bereits Pläne für einen Abendspaziergang auf dem Strip. "Na klar, gern!", willige ich ein, denn die Läuferregel Nummer eins lautet: Gegenüber Triathleten niemals eine Schwäche zeigen! Wir haben uns schon kurz am Flughafen in Frankfurt kennengelernt und bereits dort dachte ich: Ein guter Typ, das wird lustig.


Unser Hotel, das "Mirage", liegt "in the middle of everything" und direkt an der Marathon-Ziellinie. Gegenüber grüßt das "Venetian", ein idealisiertes Klein-Venedig inklusive Campanile und Gondoliere, und vom Fenster meines Hotelzimmers aus schaue ich auf die Dächer des "Caesars Palace"-Komplexes. Etwas weiter erblicke ich das "Paris Las Vegas" mit dem originalgetreuen Eiffelturm im Maßstab 1:2 und dem legendä­ren Montgolfier-Ballon. Ehrlich gesagt bin ich ein wenig beleidigt, dass keiner der größenwahnsinnigen Las-Vegas-Mogule die Vision eines Neuschwanstein-Schlosses realisiert hat - "The Ludwig" würde doch wunderbar ins Bild passen!

Tag 2: Das Kleeblatt ist komplett

Freitagmorgen. Um sechs Uhr wache ich auf. An Weiterschlafen ist nicht zu denken. Also, Laufschuhe an, und raus! Mein Ziel ist das "Welcome to Fabulous Las Vegas"-Schild, das Wahrzeichen der Stadt. Um diese Zeit sind noch keine Fußgänger, aber schon unzählige Läufer unterwegs entlang des Strips. Was mir sofort auffällt: Man grüßt sich mit erhobener Hand oder Daumen nach oben: We are family! Am Las-Vegas-Sign angekommen, bitte ich eine etwas ältere Dame, mit der ich bereits wortlos ein Stück des Weges geteilt habe, ein Foto von mir zu schießen. Sie stellt sich mir als Ruth aus Wisconsin vor und antwortet mit breitem "Yes"-Grinsen auf meine Frage, ob sie am Sonntag auch an den Start gehe. "Full?", frage ich sie. "Sure, Darling!" - "Me too!", entgegne ich und hätte sie am liebsten umarmt.

Am Ende sind bei meinem morgendlichen Lauf zehn Kilometer zusammengekommen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meinen Chef Martin den Kopf schütteln: "Zehn Kilometer, zwei Tage vor dem Wettkampf, tss!". Ich weiß, Martin, ich weiß. Aber: Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas! (So, damit wäre der alte Spruch schon mal abgehakt.)

Nach dem Frühstück marschieren Klaus und ich zum vermeintlich nah gelegenen Las Vegas Convention Center, um unsere Startnummern abzuholen. Dabei verlaufen wir uns zweimal, aber ein netter älterer Gärtner des "Wynn" (eins jener Mega-Casino-Hotels am Strip) weist uns den Weg. Wir sind unter den Ersten, entsprechend fix geht es. Es ist aber auch alles rund um das Event - von der Anmeldung bis zum heutigen Tag - perfekt organisiert.

Wieder zurück im Hotel treffen wir die Dritte im Bunde: Patty (von Patrizia), die sich im Auftrag ihres Arbeitgebers Aviareps schon seit Monaten um den reibungslosen Ablauf unserer Reise kümmert. Sie ist vom ersten Moment an eine wunderbare Mischung aus coolem Surfer-Girl und fürsorglicher Mutti - im besten Sinne! Am frühen Abend stößt noch Sabrina zu uns, freie Journalistin, erfolgreiche Bloggerin - und eine ganz besondere Erscheinung: vom Wesen her zutiefst bayerisch, aber zugleich einer der authentischsten, im Hier und Jetzt verwurzelten Menschen, die ich bisher kennenlernen durfte. Das Glücks-Kleeblatt ist also komplett. "Joa, Woansinn!"

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Das "Kleeblatt" - hier kurz vorm Start

Tag 3: Warten aufs Christkind

Samstag, der Tag vor dem Rennen! Zum Frühstück geht's ins "Primrose" im "Park MGM", einem angeblich im französischen Landhausstil gehaltenen Restaurant (wir fanden es eher englisch) mit unglaublich großen, leckeren Pancakes. Falls uns morgen die Luft ausgeht: An den Kohlenhydraten hat's nicht gelegen! Anschließend besuchen wir mit prallem Magen die Achterbahn im nahegelegenen "New York, New York". Ich lasse eine Freifahrt für alle springen, fühle mich sauwohl und bin einfach nur glücklich und zufrieden. Den Rest des Nachmittags macht jeder sein Ding. Mich zieht es zum Neon Museum, wo Leuchtreklamen aus vergangenen Zeiten aufbewahrt werden - eine wunderschöne Reminiszenz an die Anfangszeiten der Casino- und Hotel-Industrie vergangener Tage. Gegen Abend gehen wir zum Carbo­loading in ein italienisches Restaurant mit fantastischer Aussicht auf die Wasserspiele im gewaltigen See vor dem "Bellagio"-Hotel. Ein Muss für jeden Las-Vegas-Besucher: Aus 1200 Düsen schießen Fontänen über 140 Meter in die Höhe und tanzen dabei zum Takt wechselnder Musikstücke. Ganz ehrlich? Herrlich! (Ja, auch für uns Jungs!)

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Viel zu Schade zum Verschrotten: Die alten Neonreklamen

Tag 4: Race-Day – endlich!

Nach einem gemeinsamen Frühstück bereitet sich jeder von uns individuell auf seinen Lauf vor. Die beiden Frauen starten um 15:50 Uhr beim 10-Kilometer-Lauf. Beide sind noch nie ein so langes Rennen gelaufen. Hut ab! Für Klaus, der den Halbmarathon läuft, und mich fällt der Startschuss zeitgleich um 16:30 Uhr.


Als ich heute morgen aufwachte, wurde mir erstmals richtig bewusst, dass ich heute einen Marathon laufen werde, und mir fiel auf, dass ich dem Lauf mit einer unglaublichen Gelassenheit entgegensehe. Ich bin mir absolut sicher, dass ich keine Probleme haben werde: Der Mann mit dem Hammer macht mir ­heute keine Angst, alles wird gut werden. Woher diese Gelassenheit kommt? Vielleicht daher, dass ich mir fest vorgenommen habe, heute nicht auf die Zeit zu achten. Ich habe den ganzen Sommer akribisch nach Trainingsplan auf Berlin hin trainiert, jede Einheit streng nach Vorgabe absolviert, nichts ausgelassen und heraus kam, bei fiesem Schmuddelwetter, ein für mich mittelmäßiges, bei­nahe enttäuschendes Ergebnis, das gut 20 Minuten über meiner Wunschzeit lag und mir fast den Spaß am Laufen genommen hat. Heute will ich deshalb nur mit einem guten Gefühl mein Laufjahr abschließen und mir moralischen "Schwung" für das kommende holen.

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Der Strip in seiner vollen Pracht


16:27 Uhr. Ich stehe in Startblock vier und warte auf den Startschuss. Gerade sang ein wohl prominenter Sänger die amerikanische Nationalhymne. Wie ­immer im Ausland weiß ich dabei nicht, wohin mit den Händen. Rechte Hand auf die Brust geht nicht, ich bin ja kein Ami. Gefaltet vorm Bauch? Wir sind doch nicht in der Kirche! Hinter den Rücken? Dann sehen alle Amis, dass ich kein Ami bin - Ach, verdammt!


16:30 Uhr. Startschuss. Zusammen mit den Halbmarathonis macht sich das Feld auf den Weg Richtung Süden - stadtauswärts. Die ersten Kilometer führen uns entlang des Flughafens. Es ist unglaublich ruhig, man hört nur das gleichmäßige Traben unserer Schritte. Noch ist es hell. Der Himmel ist in ein weiches, gedämpftes Blau gehüllt, gemischt mit einem zarten Rosaton am Horizont. Die Erfahrung der letzten Tage sagt mir aber, dass es bald schlagartig dunkel werden wird, wohl schon auf dem Rückweg in die Stadt.


Am Straßenrand nutzt ein Prediger mit Megafon die Gunst der Stunde und versucht uns verlorenen Läuferseelen Gott näher zu bringen: "If you run to God, God will run to you", ruft er unermüdlich. Erst muss ich schmunzeln, weil ich mir Gott in Tights vorstellte, doch irgendwie bewegen mich diese Worte in diesem Moment des, ja, Friedens: Ich sehe mich plötzlich, wie ich am anderen Ende der Welt in einem Pulk von Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe und wohl auch nie wiedersehen werde, durch eine unbeschreibliche Szenerie laufen, und ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit steigt in mir auf. Dankbarkeit für das Privileg, heute hier sein zu dürfen, gesund zu sein, geliebt zu werden.
Irgendetwas macht diesen Ort besonders. Vielleicht lassen sich deshalb auf diesem Streckenabschnitt viele Läuferpaare trauen oder erneuern ihr Ehe­gelübde. Wer weiß? Als an der Wendemarke zurück Richtung Stadt dann auch noch ein Streichquartett etwas Coldplay-Artiges spielt, glaube ich an die perfekte Inszenierung - und trotzdem werden meine Augen etwas feucht. Nach dem südlichsten Wendepunkt geht es zurück ins Getümmel der Großstadt, entlang der gigantischen Hotel­anlagen, inmitten des bereits vertrauten Lichtermeers. Auch heute fehlt nicht der permanente Marihuana-Geruch, der verlässlich allabendlich wie eine Glocke über dem Zentrum der Stadt schwebt - Runner's High mal anders ...

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Patschnass und gut gelaunt nimmt ­Stefan Kurs Richtung Norden


Im Norden, weit hinter dem Stratosphere Tower, wandelt sich das Stadtbild deutlich hin zu "einfachen Wohngebieten", und die Zahl der Cannabis-Shops steigt merklich. Dennoch stehen viele Menschen am Straßenrand und feuern uns Läufer an. Aber das soll sich bald ändern: Bei Meile 10, kurz nach dem nördlichsten Wendepunkt, trennen sich Marathon- und Halbmarathonfeld. Für die kürzere Distanz geht es auf dem Strip zurück ins Ziel, die Langdistanzler aber werden in eine zehn Meilen lange und schon grotesk unattraktive Dias­pora über diverse Zubringerbrücken und Gewerbehöfe geschickt. Hat man diese überstanden, darf man für ein kurzes Stück zurück ins Licht des Strips, nur um gleich wieder auf einen gigantischen "Parkplatz" geleitet zu werden, auf dem sich ein mit Straßenbauhütchen abgesteckter rund drei Meilen langer, miserabel ausgeleuchteter Kurs befindet. Ganz ehrlich: Wer sich das ausgedacht hat, gehört dazu verdonnert, bis ans Ende seiner Tage selbst hier entlangzulaufen. Vielleicht machen die Veranstalter mit den Halbmarathon-Teilnehmern so viel Gewinn, dass die im Verhältnis dazu verschwindend geringe Anzahl an Marathonläufern einfach zu unbedeutend ist, um ihnen einen anständigen Kurs zu bieten.


Mein Fazit: Der Halbmarathon ist einer der attraktivsten und spektakulärsten der Welt und absolut zu empfehlen. Die zweite Hälfte des Marathons aber ist in weiten Teilen eine Zumutung. Nachdem man zwei Kilometer vor dem Ziel ein letztes Mal für eine Meile in die Pampa geschickt wird, geht es endlich auf dem Strip zurück ins Ziel. Und dort gibt es die - wirklich schöne - Finishermedaille. Jippie und gute Nacht.

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Ein echter Hingucker: die Marathonmedaille

Tag 5: Beine schonen – und fliegen

Die Nacht war kurz, aber das frühe Aufstehen (kurz nach sechs) hat einen guten Grund: An unserem letzten gemeinsamen Tag geht es für unsere Gruppe mit dem Helikopter zum Grand Canyon. Brad, unser Pilot, tuckert uns in 45 Minuten mit seinem Traktor der Lüfte zur einzigen Stelle im Grand Canyon, an der das Landen möglich ist, einem kleinen Plateau inmitten der Schlucht. Rund 200 Meter unter uns fließt der Colorado, seitlich steigen die schroffen Hänge des Canyons an. Entlang eines kurzen Trails gelangen wir zu einer überwältigenden Aussicht. 30 Minuten Aufenthalt genügen bei Weitem nicht, um die einzig­artige Landschaft ganz zu erfahren, machen aber Lust auf mehr.


Nach der Rückkehr ins Hotel fordern die Anstrengungen der letzten Tage ihren Tribut: Die Männer ziehen sich zum Mittagsschlaf auf ihre Zimmer zurück, die Frauen finden im hoteleigenen Spa Entspannung. Für unseren letzten gemeinsamen Abend haben wir uns zum Besuch der Fremont Street in Downtown verabredet, dem früheren Stadtzentrum. Hier befinden sich die ersten Hotels und Casinos der Stadt, aber durch die Konzentration der Besucher auf den Strip war vieles im Lauf der Zeit ziemlich herunterzukommen. Erst in den letzten Jahren begann man, das Viertel kräftig aufzupolieren.

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Der Flug zum Grand Canyon gewährt einzigartige Ausblicke


Besonders beeindruckend ist der vier Blöcke lange elektrische Baldachin, der die Fremont Street überspannt und im Sommer vor der Sonne schützt, im Winter für Wärme sorgt. Bestückt mit zwölf Millionen LED-Lämpchen und einem gewaltigen Soundsystem bietet er mit abendlichen Lightshows zudem bestes Entertainment. Nach einer Fahrt oder besser gesagt: einem Flug mit "Slotzilla", ­einer Zipline, die sich unter dem Baldachin über die gesamte Länge der Straße spannt, geht's gegen Mitternacht zurück ins Hotel zum Packen.

Am nächsten Morgen heißt es dann Abschied nehmen: Zum einen löst sich am Flughafen unser Kleeblatt auf, was uns allen sichtlich schwerfällt, denn wir hatten in den vergangenen Tagen richtig viel Spaß zusammen. Zum anderen gilt es, auch der Stadt ade zu sagen: Las Vegas, du bist einzigartig und viel mehr als nur die "leicht bekleidete" Glücksspielmetropole der Welt. Hier leben abseits der glitzernden Hotelfassaden echte Menschen, ziehen ihre Kinder groß und werden alt. Vielleicht war es ja das, was uns der Streckenplaner mit der zweiten Hälfte des Marathons sagen wollte?