Darf man mit Schmerzen trainieren?
Laufen trotz Verletzung – geht das?

Absolute Ruhe scheint bei Verletzungen gar nicht unbedingt optimal zu sein. Wir erklären, warum Sie stattdessen lieber in Bewegung bleiben sollten.
Laufen trotz Verletzung – geht das?
In diesem Artikel:
  1. Bewegung ist besser als absolute Ruhe
  2. Wie viel Schmerzen sind okay?
  3. Akzeptables Schmerzniveau darf nicht überschritten werden
  4. Völlige Ruhe kann Heilung verzögern
  5. Risiken und Folgen von Laufpausen bei Verletzungen
  6. Bewegung ist die beste Therapie
  7. Nach Operationen und Stressfrakturen Laufen vermeiden
  8. Keine Belastung ist genauso schädlich wie Überlastung
  9. Belastung hilft Verletzungen zu überwinden
  10. Schmerzgrenze kennen
  11. Numerische Schmerzskala kann helfen
  12. Ein gewisses Maß an Schmerzen ist erlaubt
  13. Schmerz bedeutet nicht unbedingt, dass etwas kaputt ist
  14. Laufen oder nicht laufen?

Sie haben Knieschmerzen? Eine Sehne zickt herum? Oder der Rücken macht Probleme? Über Jahrzehnte war es gängige Meinung in Trainingslehre und Wissenschaft, dass in so einem Fall Ruhe die beste Medizin sei. Doch wissenschaftliche Studien und klinische Erfahrung zeigen: Nichtstun ist nicht nur ineffektiv, es kann die Probleme sogar verschlimmern.

Bewegung ist besser als absolute Ruhe

Im Rahmen einer Analyse von 49 wissenschaftlichen Studien wurden 2004 die Auswirkungen einer völligen Schonung nach akuten Verletzungen der Gliedmaßen mit denen einer frühen Mobilisierung verglichen. Keine einzige dieser Studien ergab, dass Ruhe wirksamer ist. Die festgestellten Vorteile der Mobilisierung umfassten dagegen einen Rückgang von Schmerzen, Schwellungen und Steifheit und eine erhöhte Aufrechterhaltung des Gelenkbewegungsradius.

„Ruhe scheint als Behandlungsform überstrapaziert zu sein“, schrieben die Forscher der University of Queensland (Australien). Auch eine im Jahr 2007 von Karin Silbernagel, Professorin für Sporttherapie an der University of Delaware (USA), geleitete Studie stellte die Idee infrage, dass verletzte Sportler während der Heilungsphase ruhen müssten.

Bei der im „American Journal of Sports Medicine“ veröffentlichten Untersuchung wurden Sportler mit einer Achillessehnenreizung in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine absolvierte ein kraftbasiertes Reha-Programm für Achillessehne und Wadenmuskel, trainierte aber nicht.

Die andere Gruppe folgte dem Reha-Programm und trainierte weiter – auch die Sehne belastende Aktivitäten wie Laufen und Springen. Die einzige Vorgabe: Die Schmerzen der Patienten durften auf einer Skala von 0 bis 10 den Wert 5 nicht übersteigen (siehe „Wie viel Schmerzen sind okay?“) und sollten bis zum nächsten Morgen abgeklungen sein. Nach sechs Wochen waren die Funktionsverbesserungen und der Rückgang der Schmerzen in beiden Gruppen gleich. „Die Studie legt nahe, dass eine Pause von sportlicher Betätigung womöglich nicht erforderlich ist“, so Silbernagel.

Wie viel Schmerzen sind okay?

Mit dieser Schmerzskala können Sie einschätzen wann Sie laufen könnten und wann Sie lieber aufhören sollten.

  • 0 bis 2: Sichere Zone
  • 2 bis 5: Akzeptable Zone
  • 6 bis 10: Exzessive Zone

Schmerzen beim Sport dürfen maximal den Wert 5 auf der numerischen Skala erreichen. Laut Hobrough sollte man bei zunehmenden Schmerzen aber vorsichtig sein. „Wenn der Schmerz bei 1 beginnt und auf 2, 3, 4 ansteigt, müssen Sie aufhören. 4 mag im grünen Bereich liegen, aber nicht bei ansteigenden Schmerzen.“

Schmerzen nach dem Laufen können den Wert 5 haben, wenn sie innerhalb von 24 Stunden abklingen.

Schmerzen sollten nicht von Woche zu Woche stärker werden.

Akzeptables Schmerzniveau darf nicht überschritten werden

Zehn Jahre später kam eine im „British Journal of Sports Medicine“ veröffentlichte Studie zu einem ähnlichen Schluss. Eine Gruppe unter Knieschmerzen leidender Läufer passte dabei ihr Laufpensum so an, dass ein akzeptables Schmerzniveau nicht überschritten wurde, während sie zugleich ein Kraft- oder besonderes Gangtraining absolvierte. Eine Kontrollgruppe erhielt lediglich Übungen zum Kraft- oder Gangtraining. Die Verbesserungen bei Schmerzen und Funktionsfähigkeit waren nach acht Wochen bei beiden Gruppen gleich groß. Immer deutlicher zeigt sich auch, dass selbst bei akuten Verletzungen eine angemessene Belastung besser sein kann als völlige Ruhe.

Völlige Ruhe kann Heilung verzögern

Eine im „British Journal of Sports Medicine“ veröffentlichte Übersicht über 46 Studien zu Gelenkverstauchungen erbrachte starke Belege, die für eine frühzeitige Mobilisierung sprechen.

Selbst Gabe Mirkin, der Sportmediziner, der im Jahr 1978 das Akronym RICE (für Ruhe, Eis, Kompression und erhöhte Lagerung) populär gemacht hatte, ist heute der Überzeugung, dass Ruhe nicht die Therapie erster Wahl sein sollte. „Es scheint, dass sowohl völlige Ruhe als auch Eis die Heilung verzögern können, statt zu helfen“, sagt er. „Verstärken Sie Ihre Schmerzen nicht, aber bewegen Sie sich möglichst schnell wieder.“

Risiken und Folgen von Laufpausen bei Verletzungen

Der auf die Behandlung von Topläufern spezialisierte Physiotherapeut Tom Goom (running-physio.com) glaubt, dass viele medizinische Fachkräfte der Schonung bei der Behandlung von Sportverletzungen noch immer viel zu viel Gewicht einräumen. „Verletzte Läufer erhalten häufig den Ratschlag, mit dem Laufen zu pausieren. Das lässt jedoch die damit verbundenen Risiken unbeachtet.“, sagt Goom. Und die wären?

„Auf körperlicher Ebene ein Verlust kardiovaskulärer Fitness, die Dekonditionierung des Gewebes und Gewichtszunahmen. Die Anpassung an die Belastung, die sich durch regelmäßiges Laufen entwickelt, geht verloren", sagt Goom. „Und je länger wir pausieren, desto weiter sinkt das Niveau, auf dem wir einsteigen müssen, wenn wir wieder mit dem Laufen anfangen. Sonst steigt die Gefahr, dass wir uns erneut verletzen.“

Mit dem Laufen auszusetzen kann Goom zufolge nicht nur körperliche, sondern auch mentale Nachteile mit sich bringen. „Mögliche Folgen sind gesellschaftliche Isolation und negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Stimmung. Wir müssen anerkennen, dass Laufen für manche Menschen extrem wichtig ist und welche Folgen es hat, wenn sie damit aufhören. Ich bemühe mich, dass von den verletzten Läufern, die in meine Praxis kommen, 80 Prozent keine Laufpause einlegen müssen.“

Bewegung ist die beste Therapie

Paul Hobrough, Physiotherapeut und Autor von „Schmerzfrei laufen: Richtig trainieren, Verletzungen erfolgreich behandeln“ (Delius Klasing), ist derselben Meinung. „Ich bin vehement dagegen, Patienten einfach Ruhe zu verschreiben“, sagt er. „Das lässt Bewegung beängstigend erscheinen und beraubt die Leute ihrer Leistungsfähigkeit. Bewegung ist die beste Therapie. Es gibt immer einen Weg, den Patienten aktiv zu halten – wichtig ist, das Training so anzupassen, dass es das Problem nicht verschlimmert.“

Bei Achillesproblemen sind zum Beispiel Tempoläufe, weiche Untergründe und Hügel unbedingt zu vermeiden. „Ich rate dem Patienten, nur in ebenem Gelände zu laufen und zwischen Läufen 48 Stunden zu warten, um sicherzustellen, dass die Schmerzen sich nicht verstärken", so Hobrough. „Zugleich ermitteln wir, wo ihre biomechanische Ineffizienz oder Schwachstelle sitzt, damit wir auch daran arbeiten können.“

Nach Operationen und Stressfrakturen Laufen vermeiden

Aber es gibt doch bestimmt Fälle, in denen das Laufen komplett zu vermeiden ist, damit das überlastete Gewebe sich erholen kann? „Bei einigen Verletzungen, etwa Stressfrakturen oder wenn eine Operation erforderlich war, muss man den Heilungsprozess respektieren“, sagt Goom. „In diesem Fall achten wir auf minimale Schmerzen und Schwellungen sowie einen guten Bewegungsradius, bevor wir mit dem Laufen anfangen. Aber die meisten Laufverletzungen fallen eben nicht in diese Kategorie. Häufig hat ein Läufer irgendwo Schmerzen, denen dann furchterregende Etiketten wie patellofemorales Schmerzsyndrom oder Plantarfasziitis verpasst werden. Auch Begriffe wie ,degenerativ‘, ,Abnutzung‘ und ,beschädigt‘ verstärken das negative Bild. Es ist kein Wunder, dass die Leute dann das Gefühl haben, dass das Laufen über Nacht schädlich für ihren Körper geworden ist – und dass jede Form von Bewegung zusätzlichen Schaden anrichtet.“

Keine Belastung ist genauso schädlich wie Überlastung

Wer komplette Ruhe verordnet, übersieht einen weiteren wichtigen Punkt: Die Verletzung selbst kann ein Signal sein – zum Beispiel dafür, dass das Gewebe nicht stark genug war, um die Belastung, der es ausgesetzt war, zu bewältigen. „Die Belastung zu stoppen mag die Schmerzen reduzieren. Zugleich aber verringert es die Fähigkeit des Gewebes, Belastungen zu bewältigen, indem es eine Dekonditionierung herbeiführt“, sagt Goom.

Die Sporttherapeutin Karin Silbernagel stimmt zu. „Durch unsere Angst vor Überlastung richten wir Schaden an“, sagt sie. „Jedes Gewebe – Sehnen, Knochen, Muskeln – braucht Belastung, um gesund zu bleiben. Gar keine Belastung ist genauso problematisch wie eine Überlastung. Es führt zur Stagnation, wie bei einem Teich, dessen Wasser sich nicht bewegt. In einem derartigen Umfeld heilt man nicht, sondern erhält ungeordnetes Gewebe, und die Gewebegesundheit nimmt langsam ab.“

Belastung hilft Verletzungen zu überwinden

Bewegung hilft auf vielfältige Art und Weise bei der Überwindung von Verletzungen. Jede mechanische Belastung führt zu einer physischen Verformung des Gewebes – zum Beispiel verkürzt sich die Wadenmuskulatur, wenn Sie sich auf die Zehenspitzen stellen.

Neben rein mechanischen kommt es aber auch zu chemischen Wirkungen, ein Vorgang, den man als zelluläre Mechanotransduktion bezeichnet. „Die mechanische Belastung löst Zellreaktionen aus, die strukturelle Veränderungen fördern und so das Gewebe während der Heilung stärken“, erklärt Sportphysiotherapeut Samuel Dunn (livelyphysiotherapy.com.au).

Belastung trägt zum Beispiel dazu bei, dass sich nach einer Verletzung neu gebildete Muskelzellen in parallelen Linien ausrichten, wie frisch gekämmtes Haar. Dunn erläutert den Vorgang: „Bei einem Muskelfaserriss überfluten Entzündungszellen den verletzten Bereich, um ihn abzusperren und totes Gewebe zu entfernen. Anschließend bilden als Fibroblasten bezeichnete Zellen ein Narbengewebe aus, um den Muskel zu reparieren. Aber dieses Narbengewebe hat keine geordnete Form. Die Belastung hilft, es parallel in der passenden Zugrichtung auszurichten, um eine maximale Zugfestigkeit zu erreichen. Dies macht neuerliche Risse weniger wahrscheinlich.“

Inzwischen wird der Begriff „Mechanotherapie“ verwendet, um eine zur Behandlung von Verletzungen verschriebene Bewegung zu beschreiben. Wer regelmäßig Sport treibt, für den ist kontinuierliche Aktivität zudem sinnvoll, um für den Bewegungsapparat die „Normalität“ aufrechtzuerhalten. „Der Körper hasst Veränderungen“, sagt Hobrough. „Vor allem die Sehnen sind wie Ihr langweiligster Freund. Wenn sie an eine Belastung durch das Laufen gewöhnt sind, ist es viel besser, dies in einem angemessenen Umfang aufrechtzuerhalten, als damit aufzuhören.“

Schmerzgrenze kennen

Wir Läufer sind manchmal ein stures Volk, und es besteht die Gefahr, dass einige Leser diesen Artikel als Freifahrtschein betrachten, um trotz Verletzung weiter herumzuhumpeln. Aber natürlich geht es nicht darum, Schmerzen komplett zu ignorieren. Goom erläutert den Ansatz: „Statt völliger Schonung ist eine Veränderung Ihres Trainings angesagt – hin zu einem Niveau, das Ihre physische und psychische Gesundheit bewahrt, Ihre Verletzung nicht verschlimmert und Ihnen hilft, die Belastung zu bewältigen, die die Probleme verursacht hat, damit die Verletzung nicht wieder auftritt.“

Numerische Schmerzskala kann helfen

Einen Hinweis auf das optimale Trainingsmaß kann die für Karin Silbernagels Studie verwendete numerische Skala geben, bei der 0 Schmerzfreiheit und 10 die schlimmsten vorstellbaren Schmerzen darstellte. Die Probanden durften weiter Sport treiben, solange die Beschwerden den Wert 5 nicht überstiegen. „Die Bewertung wurde während der Aktivität selbst, unmittelbar danach und am folgenden Morgen vorgenommen“, erläutert Silbernagel.

Zusätzlich wurde noch die Läufern bereits vertraute Borg-Skala verwendet. Mit dieser misst man normalerweise die Anstrengungswahrnehmung. „Wir baten die Sportler, die Borg-Skala speziell auf ihre Achillessehne anzuwenden“, erklärt Silbernagel.

„Wie intensiv war die Anstrengung in diesem Bereich? Sie durften Aktivitäten, die sich ‚leicht‘ anfühlten, täglich ausführen, bei als ‚mittel‘ bewerteten Aktionen mussten sie danach zwei Tage Pause einlegen, und als ‚schwer‘ bewertete Aktivitäten erforderten drei Tage Pause.“ Dieses Kombi-Tool zur Selbstanalyse wird seitdem erfolgreich allgemein eingesetzt – bei Freizeitläufern ebenso wie bei Weltklasse-Marathonläufern, die an Verletzungen der Achillessehne laborieren.

Ein gewisses Maß an Schmerzen ist erlaubt

Goom verwendet den Begriff „Lauftoleranz“, um das Trainingsniveau zu beschreiben, das ein Patient nach einer Verletzung bei der Reha ohne schädliche Auswirkungen erreichen kann.

Es gibt fast immer ein Laufniveau, das toleriert werden kann. Vielleicht läuft man nicht so lange oder nicht so schnell, aber es ist immerhin etwas. Sagen wir mal, Sie gehen laufen, und nach 20 Minuten machen sich Ihre Symptome bemerkbar. Dann sollten Sie es nächstes Mal nach 15 Minuten gut sein lassen. Wenn das funktioniert, können Sie versuchen, es auf 17 Minuten zu steigern. Am einfachsten ist es, dies unter der Aufsicht eines Gesundheitsprofis zu machen. Das Problem ist nur: Häufig wollen die gar nicht, dass man mit einer erkannten Verletzung läuft.“

Schmerz bedeutet nicht unbedingt, dass etwas kaputt ist

Dies ist der Grund, warum Silbernagel die numerische Schmerzskala als so hilfreich empfindet. „Sie verleiht dem Patienten eine gewisse Kontrolle darüber, was zu viel oder zu wenig ist“, sagt sie. „Und die Schmerzwissenschaft hat uns gelehrt, wie wichtig diese Kontrolle und Selbstbestimmung sind. Ein gewisses Maß an Schmerzen ist erlaubt. Schmerz bedeutet nicht unbedingt, dass etwas kaputt ist.“ Tatsächlich ergab eine Studie unter Reha-Patienten, dass Übungen, die leichte Schmerzen verursachten, wirksamer waren als völlig schmerzfreie.

Und dann gibt es noch Fälle, in denen Sie auf keinen Fall laufen sollten. „Man muss vernünftig sein“, warnt Hobrough. „Wer nicht schmerzfrei gehen kann, sollte auch nicht laufen.“ Bevor Sie die Laufschuhe schnüren, gleichen Sie Ihre Symptome lieber mit unserer Checkliste „Laufen oder nicht laufen?“ ab. Und denken Sie daran, dass der Weg zur Genesung nicht immer geradlinig verläuft. „Gelegentliche Rückschläge sind zu erwarten“, so Goom. „Aber ein Wiederauftreten der Symptome bedeutet nicht, dass Sie wieder ganz am Anfang stehen.“

Laufen oder nicht laufen?

Bevor Sie wieder mit dem Laufen beginnen, sollten Sie diese Punkte bestätigen können.

  1. Sie haben bei täglichen Aktivitäten nur minimale oder gar keine Schmerzen.
  2. Ein halbstündiger Spaziergang fühlt sich gut an.
  3. Sie können eine Minute lang auf der Stelle joggen, ohne dass es wehtut.

Falls Sie diese drei Aussagen wahrheitsgemäß bejahen können, gehen Sie laufen. Fangen Sie langsam an und steigern Sie sich. Wenn sich Ihre Symptome melden, merken Sie sich, wie weit oder wie lange Sie gelaufen sind, und belassen Sie es dabei. Warten Sie ab, wie es am nächsten Tag ist. Ist der Schmerz abgeklungen, können Sie wieder laufen.