#BrooksRunsNamibia
Teil 2 – Ein Alien in der Wüste

Namibia Crossing – ein Etappenrennen über fünf Tage und 200 Kilometer – lockte unseren Redakteur nach Südafrika und Namibia. Was ein knallharter Wettkampf werden sollte, wurde zu einer Lektion, die seine Haltung zum Laufen nachhaltig veränderte.
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Foto: Stephan Wieser

Das Schnaufen meines Verfolgers wird nicht leiser. Obwohl ich so hart laufe, wie ich es nach fünf Tagen und knapp 200 Kilometern in der Wüste nur kann, lässt er sich nicht abschütteln. Seit vier Tagen geht das so. Mal war ich kurz vor ihm, mal er kurz vor mir im Ziel. Heute zählt es: Wenn ich diese fünfte Etappe gewinne, habe ich das ganze Rennen gewonnen. Als ich mir dessen bewusst werde, mobilisiert mein Körper die letzten Reserven.

Meine Schrittfrequenz erhöht sich. Statt bei jedem Schritt in den Sand einzusinken, fliege ich förmlich da­rüber. Während mein eigenes Schnaufen zu einem Inferno anschwillt, wird das meines Verfolgers leiser. Ich ­renne den Berg hoch, ignoriere den metallischen Geschmack im Mund, sehe das Ziel und bin mir nun sicher: Ich habe das Ding gewonnen! … So habe ich mir den Ablauf des Etappenrennens Namibia Crossing vor dem Start in meiner Vorstellung ausgemalt. Doch es kam ganz anders. Aber fangen wir vorn an.

Das Vorgeplänkel

Vergangenen November war ich schon einmal in Afrika. Auf Initiative von Brooks reiste ich mit Influencer Christian „Culli“ Cullmann von Windhuk, der Hauptstadt Namibias, bis nach Südafrika. Möglich machten die Reise Venter Tours, Air Namibia und das Namibia Tourism Board. Im grenzüberschreitenden Ai-Ais Richtersveld Transfrontier Park trafen wir zudem auf Owen Middleton. Als ortskundiger Guide und Rennveranstalter (www.wildrun.com) gab er uns einen Einblick in die Schönheit der Wüste. Gemeinsam liefen wir durch unberührte Natur, abseits je­glicher Zivilisation.

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Stephan Wieser
Im Ai-Ais Richtersveld Transfrontier Park zwischen Südafrika und Namibia gibt es noch beinahe unberührte Wildnis.

Nachdem er uns von einem Rennen berichtete, das er hier veranstalten wollte, waren wir Feuer und Flamme. Schnell war klar, dass wir zurückkommen werden. So schrieb ich für die März-Ausgabe dieses Magazins nicht nur eine Reportage (hier geht's zur ersten Reportage) über unseren Trip – gemeinsam mit Brooks suchten wir auch zwei Leser, die ebenfalls am Namibia Crossing teilnehmen wollten. Unter mehr als 1000 Bewerbern fiel die Wahl nach reiflicher Überlegung auf Sandra Mastropietro und Henrik Lange – zwei erfahrene Trail- und Ultraläufer.

Die Ausgangssituation

Als wir Mitte Juni in Frankfurt am Main aufbrechen, male ich mir im Idealfall Chancen auf den Sieg aus. Aber schon bald wird mir klar, dass Henrik diesem Idealfall im Weg stehen könnte. Er ist schnell und hat noch mehr Erfahrung auf Trails als ich. Auch Culli hat gut trainiert, schleppt aber eine Erkältung mit sich herum.

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Air Namibia hat das Team #BrooksRunsNamibia mit Henrik Lange, Christian Cullmann, Astrid Lux, Henning Lenertz und Sandra Mastropietro (v. l.) sicher nach Oranjemund geflogen.

Am Startort in Sendelingsdrif, einem kleinen Grenzübergang auf südafrikanischer Seite des Parks, beziehen wir unsere Zelte. Jeder bekommt sein eigenes – ein unerwarteter Luxus. Peu à peu treffen weitere Teilnehmer ein, die von mir unwillkürlich in Gut (langsam) und Böse (schnell) eingeteilt werden. Beim Briefing am Vorabend des Rennens geht die Konkurrenzbetrachtung weiter: Nur 30 Teilnehmer sitzen beisammen. Und Rennchef Owen hat eine schlechte Nachricht. Anders als geplant erlaubt die südafrikanische Regierung nicht, dass wir mit einem Boot den Oranje und damit die Grenze nach Namibia überqueren. Wie alle anderen müssen wir den Grenzübergang, an dem wir uns gerade befinden, benutzen. So ist Owen gezwungen zwei Etappenverläufe zu ändern. Somit gibt es auch zwei neue Dateien für uns Teilnehmer, denn die Navigation erfolgt mittels GPS-Gerät. Ich nutze dafür einfach meine Garmin-Uhr, mit der ich mich gut auskenne. Das Briefing spare ich mir und gehe lieber früh ins Bett.

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Jeder Teilnehmer hat den Luxus eines eigenen Zeltes.

Der Startschuss

Der Startschuss fällt, und ich setze mich an die Spitze des Feldes. Da es sehr windig ist, höre ich nicht, wie viele Leute mir folgen. Im Augenwinkel erkenne ich, wie erwartet, Henrik. Es geht einen Berg hinauf. Ich weiß, dass ich zu hart laufe. Oben angekommen bin ich platt – und allein. Soll ich warten oder nicht? Ohne mich weiß Henrik nicht, wo es langgeht, da er im Gegensatz zu mir die neue Strecke der Etappe nicht auf seine Uhr übertragen konnte. Die Aussicht, mich abzusetzen, lässt mich ganz egoistisch weiterrennen. Es geht bergab über loses Geröll bis in ein aus getrocknetes Flussbett. Obwohl das GPS anzeigt, dass der nächste Punkt rechts liegt, bleibe ich im Flussbett. Hier ist der Sand kompakter, sodass ich schneller laufen kann. Der direkte Weg ist oft der schnellste, aber eben nicht immer. Ich mache Druck und erreiche nach 34 Kilometern und rund 3:07 Stunden das Ziel. Die Zelte stehen schon, der Zielbogen auch. Doch da das Team noch beschäftigt ist, hält sich der Jubel in Grenzen. Ich setze mich in den Schatten unterm Ziel bogen, esse einen Energieriegel und warte – bis 44 Minuten später Culli um die Ecke schießt. Ich bin überrascht – über den Vorsprung und über Culli. Henrik hat sich, als ich mich absetzte, tatsächlich verlaufen.

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Im Ziel der ersten Etappe resümiert das Team von #BrooksRunsNamibia gemeinsam die Erlebnisse des Tages.

Als wir uns später am Lagerfeuer mit dem köstlichen Essen von Camp-Mutter Marion stärken, ist die Etappe vergessen und wir sind uns einig: Der morgige Tag wird anders verlaufen. Zwar sind die Locals Dawid und Warnall nicht so flott, wie ich dachte, doch Henrik und Culli wirken stark. Außerdem hat Henrik die morgige Strecke wieder auf seiner Uhr. Verlaufen ist diesmal also unmöglich – eigentlich …

Die Sinnfrage

Um das Feld kompakter zu halten, gibt es ab Tag zwei insgesamt drei Starts: 7:15, 7:45 und 8:15 Uhr. Die Langsameren zuerst. Als mein Startschuss fällt, wiederholt sich das Bild des Vortags: Henrik und ich vornweg. Am ersten Anstieg ziehe ich davon und laufe auf die beiden Gruppen vor mir auf. Eine riesige Ebene breitet sich vor uns aus, an deren Horizont sich im noch flachen Sonnenlicht Berge abzeichnen. Wenig später klettere ich Felsblöcke hinauf, einige so groß wie ein Haus. Hier ist die Strecke markiert, da man sonst in einem Labyrinth aus Fels verloren gehen würde. Genau das passiert Henrik. Während er sich verklettert und weder vor noch zurück kommt, bin ich auf den letzten 13 Kilometern. Ich laufe entlang des Oranje, dessen Wasser das Ufer in eine grüne Oase verwandelt. Es wird immer heißer, und der Sand raubt mir die Kräfte. Ich sehne mich nach einer Abkühlung im Fluss. Es wären nur wenige Meter Umweg, doch der Wille, schnellstmöglich ins Ziel zu kommen, siegt.

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Sandra Andrew (Nummer 17) laufen vom ersten bis zum letzten Meter des Rennens gemeinsam.

Als Daniel, ein junger Engländer, den ich mit seinen Straßenschuhen nicht ganz ernst nehmen kann, 55 Minuten nach mir das Etappenziel erreicht, wird mir klar, dass ich mich bei diesem Rennen nur selbst schlagen kann. Das soll nicht arrogant klingen, aber wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, ist mir der Sieg nicht mehr zu nehmen. Daher stellt sich mir die Frage: Was mache ich hier eigentlich? Und was machen die anderen hier, die teils doppelt so lange brauchen wie ich?

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Statt aufs Smartphone zu starren – Empfang gibt’s eh nicht –, wird abends am Lagerfeuer sehr intensiv miteinander gesprochen. So wächst die Gruppe jeden Tag mehr zusammen.

Abends beim Lagerfeuer stelle ich diese Frage den anderen. „Ich möchte nur diese unberührte Natur erleben“, sagt John, ein Brite, der mit seinem Privatjet angereist ist. Daniel, der heute Zweiter wurde, sagt: „Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue. Ich habe nicht mal mehr Gels über.“ Was bei ihm wie ein Scherz klingt, ist Realität. Da ich über mehr als genug Gels und Riegel verfüge, spendiere ich Daniel vor der dritten Etappe ein paar. Mein Konkurrenzdenken hat sich in Luft aufgelöst. Was mich aber beschäftigt: Ich als gut trainierter, erfahrener Läufer habe mehr als nur Respekt vor dieser Herausforderung. Aber hier sind Leute dabei, die sich kaum oder gar nicht vorbereitet haben und deshalb ernste Zweifel haben, ob sie das Ziel erreichen werden. Zugleich wird mir klar, dass viele nicht verstehen, wieso ich mich jeden Tag so abhetze. Für die meisten bin ich bloß der Speedster. Ein Alien!

Der Grenzübertritt

So kämpfe ich auf der dritten Etappe, die uns zurück zum Startort nach Sendelingsdrif bringt, wieder nur gegen mich selbst. 17 Kilometer geht es bergauf, dann 25 bergab. Die hügelige Behelfsetappe ist gut zu laufen. Im Ziel habe ich 49 Minuten Vorsprung auf Daniel und Sylvie, die gemeinsam als Zweite eintreffen. Nachmittags überqueren wir zunächst mit einer kleinen Pontonfähre den Oranje und damit die Grenze nach Namibia, bevor es im Bus zum Camp, dem morgigen Startort, geht.

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Statt wie geplant die Grenze während einer Etappe zu überqueren, müssen die Teilnehmer an einem offiziellen Grenzposten mit einer Pontonfähre nach Namibia übersetzen – die südafrikanische Regierung hatte die Ausnahmegenehmigung kurzerhand zurückgezogen.

Während der einstündigen Fahrt komme ich mit Ciara, einer Tierärztin aus Schottland, ins Gespräch. Wer sie das erste Mal sieht, käme nicht auf die Idee, dass sie läuft – oder überhaupt Sport treibt. Doch ihr stämmiger Körper täuscht: Sie hat schon die krassesten Rennen der Welt gefinisht. Nach dem Gespräch habe ich ein ganz anderes Bild von ihr. Ich är­gere mich über meine Oberflächlichkeit.

Der Canyon

An Tag vier wartet die mit 43 Kilometern längste und härteste Etappe auf uns. Noch vor dem ersten und einzigen Verpflegungspunkt bei Kilometer 10 habe ich alle vor mir Gestarteten überholt. Es ist schon fast ein Ritual, dass wir uns High Fives geben oder einen schönen Tag wünschen. Ich mag diese Momente. Doch die anschließende Ruhe mag ich noch mehr. Hier ist niemand außer mir. Es vergehen Stunden, in denen ich auf mich allein gestellt bin. Als ich in einer trockenen Schlucht mit einigen größeren Felsen umknicke und stürze, werde ich mir dessen so bewusst wie nie zuvor. Es würde Stunden dauern, bis ein Helikopter da wäre … und mangels Mobilfunkempfang könnte ich den auch gar nicht erst rufen. Zum Glück geht mein Sturz glimpflich aus – ebenso wie die Begegnung mit einer Gruppe Paviane, die sich unter aggressivem Geschrei auf einen Berg zurückziehen.

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Die mehr als 40 Kilometer lange Etappe durch den Fish River Canyon – nach dem Grand Canyon der zweitgrößte der Welt – ist geprägt von fast unlaufbarem Gelände, bei dem sich feiner Sand, rundgeschliffene Felsen und tiefer Matsch abwechseln.

Ich erreiche den Fish River und frage mich, wie dieses meist ausgetrocknete Rinnsal die nach dem Grand Canyon zweitgrößte Schlucht der Erde geformt haben soll. Umgeben von den steilen, imposanten Felswänden fühle ich mich klein. Immer weiter kämpfe ich mich den Fluss hinauf. Ich tue mich schwer, stolpere unentwegt. Als ich mich dann auch noch in einer Sackgasse zwischen Fels und Wasser wiederfinde, ist meine Laune dahin. Umkehren? Nein, lieber wate ich durch den Fluss. Ein Fehler, denn kurz darauf habe ich stechende Schmerzen im rechten Fuß. Als ich den Schuh ausziehe, ist die Socke blutgetränkt. Sand und Wasser haben die Haut von den Zehen gerieben. Notdürftig reinige ich die Wunde und verbinde das Massaker. Kurz vor dem Ziel muss ich noch zweimal durch den Fluss waten. Ich bin mir sicher, dass ich heute einmal nicht der Erste sein werde. Doch einmal mehr habe ich sogar einen deutlichen Vorsprung.

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Nach jeder Etappe unterm Zielbogen die anderen Teilnehmer mit einem High five zu empfangen wird für Henning zu einem täglichen Ritual.

Nach einem Bad im Fluss setze ich mich unter den Zielbogen und warte – sehr lange. Als es dunkel wird, sitze ich immer noch dort. Bis auf Nico­lette, Roelien und Berdene sind alle im Ziel. Die Vorstellung, im Dunkeln durch dieses unwegsame Gelände laufen zu müssen, flößt mir Respekt ein. 9:45 Stunden nach meinem Zieleinlauf tauchen endlich ihre Stirnlampen auf. Während ich mich seit dem Mittag erholen konnte, müssen sie in weniger als neun Stunden schon wieder starten. Ich habe größte Hochachtung, dass sie das durchziehen.

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Stephan Wieser
Abseits jeglicher Lichtverschmutzung sind die Sterne so deutlich zu erkennen, wie an kaum einem Ort der Welt.

Die Zivilisation

Die Sanitäter haben die Zehen notdürftig behandelt, aber die Vorstellung, 25 Kilometer zu laufen, erscheint absurd, als ich zum letzten Frühstück des Rennens humpele. Doch mit dem Startschuss sind die Schmerzen vergessen – für 700 Meter. Dann müssen wir erneut durch den Fluss. Ich halte an, blicke nach rechts und nach links. Als ich erkenne, dass ich keinesfalls trockenen Fußes hier durchkomme, ist Henrik schon auf der anderen Seite. Also springe auch ich ins Wasser. Schnell habe ich ihn wieder eingeholt. Es werden die einzigen Meter des Rennens sein, die ich nicht in Führung liege. Die kürzeste Etappe hat die meisten Höhenmeter. Das liegt mir. Toll zu laufende Pfade führen an wunderschönen Felsformationen vorbei.

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Die letzte Etappe ist mit knapp 26 Kilometern die kürzeste, hat mit knapp 800 Höhenmetern aber die meisten Anstiege.

Vom letzten Gipfel aus sehe ich das Ziel, ein Resort mit Pools, Bar und Handyempfang. Es wirkt wie ein Fremdkörper in der Wüste. Im Downhill begegne ich zum ersten Mal seit fünf Etappen Menschen. Auch sie erscheinen wie Fremdkörper. Die Wildnis spuckt mich in eine künstliche Zivilisation. Zum ersten Mal erlebe ich einen stimmungsvollen Zieleinlauf. Ich habe das Ding gewonnen!

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Das Team #BrooksRunsNamibia und Rennchef Owen (wer sieht ihn?) freuen sich, gesund im Ziel zu sein.

Die Erkenntnis

Als ich am Nachmittag zum Pool gehe, kommen mir Nicolette, Roelien und Berdene entgegen. Die drei brauchten für die rund 190 Kilometer 31:24 Stunden länger als ich. Sie beglückwünschen mich und preisen, welch Inspiration ich für sie sei. Immer, wenn ich sie überholt hätte, habe sie das total motiviert. Ich stammele ein Danke und ziehe erstaunt weiter. Ich, eine Inspiration? Die Aussage beschäftigt mich. wieder zurück in Deutschland wird mir klar: Die drei sind eine viel größere Inspiration: Sie haben etwas geschafft, was sie sich selbst nicht zugetraut haben und auch ich ihnen nicht zugetraut habe. Sie hatten ein viel härteres Rennen als ich, waren jeden Tag länger unterwegs, hatten viel weniger Zeit, sich zu erholen. Meine Sicht hat sich seitdem grundlegend verändert. Während ich vor diesen fünf Tagen gesagt hätte, dass nur sehr trainierte Läufer, die sich ihrer Sache sicher sind, solch ein Rennen machen sollten, bin ich jetzt der Ansicht: Probiert es! Wagt ein Abenteuer, und zeigt euch selbst, was ihr könnt.

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