London-Marathon 2021
Mit der Londoner Achterbahn zur Marathon-Bestzeit

Jonas Müller war beim London-Marathon 2021 am Start. In seinem Erfahrungsbericht erzählt er, wie er in 2:31:42 Stunden viertbester Deutscher wurde und warum auch sein 22. Marathon mehr als eine Achterbahnfahrt war.
Jonas Müller beim London-Marathon 2021
Foto: RUNNER'S WORLD

Da war er wieder, der Moment, in dem die Gefühle Achterbahn, ach nein, nennen wir es eher „Sechzehnerbahn“ fahren. 42 Kilometer in den Beinen, Pandemie und Klimakrise, in diesem Moment, nämlich auf den letzten 195 Metern des diesjährigen London-Marathons, war einmal mehr für einen Augenblick alles so fern, stattdessen pure Freude. Rechter Zeigefinger zum linken Handgelenk. Stopp! 2:31:42 Stunden – geschafft!

Zurück in den Januar 2020. Im September 2019 war ich beim Loch Ness Marathon in den schottischen Highlands Vierter geworden und hatte meine Marathonbestzeit um gut zwei Minuten auf 2:39:16 Stunden verbessert und somit erstmals die 2:40-Stunden-Barriere unterboten. Es war an der Zeit, schließlich hatte ich eine solche Zeit bereits im Oktober 2017 in den Beinen - glaubte ich. Als ich in Frankfurt nach 35 Kilometern an meinen RUNNER’S-WORLD-Kollegen am Streckenrand vorbeilief, war ich noch auf 2:39-Stunden-Kurs. Danach bekam ich Probleme und verpasste trotz neuer Bestzeit das Unterbieten der 2:40 Stunden knapp. 2018 folgten Verletzungsprobleme, weshalb es fast zwei Jahre dauern sollte, bis ich mich im Herbst 2019 wieder bereit für eine Marathon-Bestzeitjagd fühlte. In Inverness in Schottland sollte dann klappen, was mir in Frankfurt bei stürmischen Bedingungen noch verwehrt blieb. Noch heute sind die Emotionen und die Erinnerungen an damals greifbar. Und ich glaube, daran wird sich auch nichts ändern, schließlich habe ich noch jeden Marathonzieleinlauf vor Augen – auch wenn ich mit meinen 27 Jahren hoffentlich noch den ein oder anderen vor mir habe, waren es bereits 22.

Von den Highlands zum Elite-Marathon-Sieg

Nach meinem Start beim Loch Ness Marathon 2019 hoffte ich auf einen weiteren Marathon im Frühjahr 2020. Die Vorbereitung lief, die Pandemie kam und das geplante Rennen wurde abgesagt. Nun gut, Mund abputzen, weitermachen. Nachdem ich mich innerhalb weniger Tage neu orientiert und einen anderen Marathon ausgewählt hatte, ging die Marathonvorbereitung weiter. Wenige Wochen später sollte die nächste Absage folgen. Insgesamt wiederholte sich dies sieben Mal. Monate später, es war plötzlich November, fand ich mich beim Laufszene Invitational Run Dresden, einem Elite-Marathon im Großen Garten von Dresden, wieder. Knapp 17 Runden galt es zu absolvieren. Rasch lief ich allein an der Spitze und spulte so Kilometer um Kilometer und Runde um Runde ab. Nach 2:32:15 Stunden überquerte ich die Ziellinie meines 20. Marathons. Damit hatte ich es zum vierten Mal geschafft, meine Bestzeit um über fünf Minuten zu unterbieten. Eigentlich hatte ich gedacht, dass dies in diesen Zeitbereichen nicht mehr möglich sei. In Dresden lief aber fast alles zusammen, sodass ich mich nach einer Odyssee von Marathonvorbereitung für all den Einsatz und das Durchhaltevermögen belohnen konnte. Als die Uhr auf 2:31:00 Stunden umsprang und ich mich den letzten Metern näherte, war dieses Gefühl, das ich unter anderem im Norden Schottlands erlebt hatte, und ein knappes Jahr nach meinem Start in Dresden auch in London wieder erleben sollte, wieder da: Sechzehnerbahn, einfach nur Sechzehnerbahn! Dass neben einer Bestzeitverbesserung von gut sieben Minuten auch mein erster Marathonsieg rauskam, machte den Laufszene Invitational Run Dresden zu einem weiteren unvergesslichen Marathon.

Laufszene Invitational Run Dresden 2020 (Halb-)Marathon
Norbert Wilhelmi
In Dresden lief Jonas in 2:32:15 Stunden zum Elite-Marathon-Sieg.

Motiviert durch die gemachten Erfahrungen, dass vieles geht, wenn man nur ganz fest daran glaubt, ging es im Frühjahr 2021 weiter mit dem Cheshire Elite Marathon, einem Marathon in einem kleinen Dorf an der Grenze von England und Wales. Nie zuvor (und auch nicht danach) hatte ich so viel trainiert wie für diesen Marathon. Die erste Hälfte lief ich in 1:14:30 Stunden gemeinsam mit mehreren Läuferinnen, die auf der Jagd nach einem Ticket für die Olympischen Spiele in Tokio waren. Auf der zweiten Hälfte wurde es jedoch warm und einsam. Ich musste einsehen, dass ich nicht meinen besten Tag erwischt hatte, versuchte aber dennoch, eine für mich schnelle Zeit zu laufen. Nach 2:35:48 Stunden stoppte die Uhr. Nicht langsam, aber langsamer als das, was ich wollte, nämlich möglichst wieder an meine Bestzeit ranzukommen.

Bereit für London

Mit etwas weniger Struktur und gleichzeitig ein wenig mehr Gelassenheit ging ich im Sommer die Vorbereitung auf den nächsten Anlauf an. Wenngleich zu Beginn der Vorbereitung noch nicht final feststand, welcher Marathon es werden würde, zeichnete sich ab, dass ich die Möglichkeit haben würde, erstmals beim London-Marathon an den Start gehen zu können. Wohl kein anderer Marathon in Europa hätte mich so begeistern können wie London. Daher gab ich in den verbleibenden Vorbereitungswochen nochmals mein Bestes und versuchte ich, auch die sich nach langer Zeit wieder ergebende Gelegenheit zu nutzen, im Rahmen der Marathonvorbereitung an Läufen über kürzere Distanzen teilzunehmen. Über zehn Kilometer lief ich 33:07 und 32:42 Minuten sowie zwischendurch eine neue Bestzeit von 32:16 Minuten. Darüber hinaus nahm ich den Reisestress zum Antrim Coast Half Marathon nördlich der nordirischen Hauptstadt Belfast auf mich. Dieser sollte sich lohnen. Zwar lag ich mit meiner Zeit von 1:11:58 Stunden über acht Minuten hinter Yalemzerf Yehualaw aus Äthiopien, die an der Küste Nordirlands den Halbmarathon-Weltrekord der Frauen verbesserte, jedoch nahm ich im Vergleich zu meiner bisherigen Halbmarathon-Bestzeit eineinhalb Minuten von der Uhr, sodass ich dem London-Marathon optimistisch entgegenblicken konnte.

Jonas Müller beim London-Marathon 2021
RUNNER'S WORLD
Während seiner Marathonvorbereitung verbesserte Jonas mehrere persönliche Bestzeiten.

Die verbleibenden Vorbereitungswochen vergingen. Manche Einheiten liefen besser, andere schlechter. Es passte lange nicht alles, aber eben so einiges. Somit reiste ich, nachdem ich in den Tagen vor dem London-Marathon die gerade noch rechtzeitig eingetroffene London-Marathon-Kollektion von New Balance testen konnte, am Freitag, den 1. Oktober in die englische Hauptstadt. Auch dort war die New Balance-Kollektion auf der Marathonmesse sehr präsent, wo ich am Freitag direkt meine Startnummer abholte und meinen Kleidungsbeutel abgab. Bei sehr großen Marathons versuche ich stets, bereits am Freitag vor Ort und auch auf der Marathonmesse zu sein. Während ich am Samstag meine Beine, wenn möglich, nicht so sehr belasten und den Tag entspannt gestalten möchte, spricht am Freitag nichts gegen Verweilen auf der Marathonmesse, die sich beim London-Marathon im ExCel London im Osten der Stadt befand und durchaus ansprechend gestaltet war. So wurde beispielsweise durch einige Stellwände und kompetente Helfer auch über die zunehmende Nachhaltigkeit des London-Marathons informiert. Dabei wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Wasserflaschen während des Rennens idealerweise zwischen Trinken und Wegwerfen komplett ausdrücken solle, da diese sonst nicht recycelt werden könnten. Selbstverständlich versprach ich, auch diesbezüglich mein Bestes geben zu wollen.

Am Samstag, dem Vortag des Marathons, klingelte der Wecker früh. Üben für Sonntag? Nur bedingt, schließlich wartete um 9:00 Uhr einer der zahlreichen Parkruns, die es in London gibt. Aus dem eigentlich geplanten Victoria Docks Parkrun, der abgesagt wurde, wurde kurzfristig der Beckton Parkrun. Wo am Samstagmorgen normalerweise nur rund 40 Läufer am Start stehen, standen am 2. Oktober nun 140, darunter auch einige Marathonläufer, die den Parkrun als entspanntes Einlaufen nutzten. Während meine Freundin Natalie Gas gab und nur einem Mann den Vortritt lassen musste, kam ich mehrere Minuten hinter ihr nach entspannten 24 Minuten auf Platz 42 ins Ziel. Aus Platz 42 sollten tags drauf 42 Kilometer werden. Zuvor wartete im Anschluss an den Beckton Parkrun aber noch der New Balance Shake Out Run, bei dem wir zwar nicht mitliefen, uns jedoch über viele spannende Begegnungen und Gespräche sowie ein interessantes Interview mit den britischen Triathlon-Olympiasiegern Georgia Taylor-Brown und Alex Yee freuen konnten. Den Rest des Tages legte ich die Beine hoch und freute mich auf die übliche Portion Spaghetti Pomodoro als letzte warme Mahlzeit vor dem Marathon.

Jonas Müller beim London-Marathon 2021
RUNNER'S WORLD
Bereits zwei Tage vor dem London-Marathon holte Jonas auf der Marathonmesse seine Startnummer ab.

London-Marathon als Slalom-Lauf mit Gänsehaut-Momenten

Sonntag, 3. Oktober 6:00 Uhr: Aufstehen, Jonas! Der große Tag war gekommen. Eine Stunde später ging es los zur U-Bahn, mit der ich zum Zug fuhr, der mich nach Blackheath zum Start aller Läufer mit blauer Startnummer brachte. Bei Temperaturen von rund elf Grad Celsius und etwas Wind aus Südwesten wartete ich auf den Start. Exakt vier Minuten nach dem Start der Elite-Männer sowie der direkt dahinter gestarteten Teilnehmer der britischen Meisterschaften überquerte ich um 9:34 Uhr als Starter der ersten von zahlreichen Wellen die Startlinie. Es dauerte keine fünf Minuten schon hatte ich die ersten Meisterschaftsläufer eingeholt. Rasch ahnte ich, was mich auf den über 40 verbleibenden Kilometern noch erwarten würde.

Die 5-Kilometer-Markierung passierte ich nach 17:37 Minuten, die zehn Kilometer nach 35:11 Minuten. Kurz darauf erreichte ich nach unrhythmischem Beginn Cutty Sark, ein im Jahre 1869 gebautes Segelschiff, das es nach einem Viertel der Renndistanz nahezu komplett zu umrunden galt. Getragen von den zahlreichen Zuschauern, die in mehreren Reihen hintereinanderstanden und ein erstes Mal für einen wahren Gänsehaut-Moment sorgten, war das historische Schiff rasch passiert, sodass ich danach nach flottem Beginn versuchte, etwas mehr mein einiges Tempo zu finden. Dies wurde allerdings wie bereits auf den ersten zehn Kilometern weiterhin durch die Tatsache erschwert, dass ich dauerhaft Meisterschaftsläufer überholen und teilweise etwas Slalom laufen musste. Auch wenn ich schon einmal mehr Slalom laufen musste, war ich hiervon durchaus überrascht und fühlte mich teilweise ein wenig wie der ehemalige Skirennläufer und Slalom-Spezialist Felix Neureuther.

In minimal reduziertem Tempo rollte oder kurvte ich der Tower Bridge, die nach 20 Kilometern wartete, entgegen. Die Vorfreude auf das Überlaufen der weltbekannten Brücke war bereits Tage zuvor riesig. Dann war er da, Gänsehaut-Moment Nummer zwei. Was für eine Stimmung, was für eine Aussicht! So schnell die Tower Bridge gekommen war, war sie auch schon wieder weg. Viel zu schnell ging der Moment vorbei, der ebenfalls zu denen zählt, die man wohl – oder zumindest hoffentlich – sein ganzes Leben nicht vergessen wird. Daher beim Verlassen der Brücke noch kurz zweimal zurückgeschaut und weiter geht’s. Gut vier Minuten später passierte ich nach 1:15:12 Stunden die Halbmarathonmarke – 42 Sekunden langsamer als im Frühjahr beim Cheshire Elite Marathon, aber dennoch ein paar Sekunden schneller als eigentlich geplant.

Wenn sich alles auszahlt

Auf den kommenden Kilometern ließ die Kraft langsam nach und die Beine wurden schwerer. Da die Strecke nun einige Male die Richtung wechselte, ging es fortan auch immer wieder gegen den Wind, der im Laufe des Tages zunehmend stärker werden sollte. Nichtsdestotrotz gelang es mir das Tempo bei ca. 3:38 Minuten pro Kilometer zu halten. Erst als es zwischen Kilometer 35 und 40 quasi parallel zur Themse laufend nahezu frontal gegen den Wind ging, fiel das Tempo leicht ab. 18:25 Minuten benötigte ich für diesen Abschnitt, der darüber entscheiden sollte, ob ich auf den letzten beiden Kilometern noch Chancen auf das Erreichen einer neuen Marathon-Bestzeit haben würde.

Jonas Müller beim London-Marathon 2021
RUNNER'S WORLD
Am Marathon-Sonntag ging es für die London-Marathon-Teilnehmer beim Big Ben auf den finalen Rennabschnitt.

„Schnell genug, um mit einer Schlussoffensive die 2:32:15 Stunden unterbieten zu können“, dachte ich mir, genoss für eine Sekunde den sich mir ergebenden Blick auf das Riesenrad London Eye, schüttete in der nächsten Sekunde kühlendes Wasser über mich und gab – ach stopp, Flasche ausdrücken nicht vergessen! – Gas. 499 Sekunden verblieben für 2,195 Kilometer. Es ging am Big Ben vorbei und am St. James’s Park entlang. Noch 1.000 Meter – alles reinlegen jetzt! 400 Meter später war mir klar: „Das schaff‘ ich!“ 300 Meter vor dem Ziel hörte ich, dass Shalane Flanagan, die ebenfalls vier Minuten vor mir gestartet war, auf der Zielgerade vor dem Buckingham Palast begrüßt wurde. Für mich ging es nun noch einmal rechts. Noch 195 Meter, 42 Kilometer in den Beinen und das Ziel in Sicht. Das ist er, dieser Moment, für den sich alles lohnt – jede noch so verregnete, nervige, unspaßige Trainingseinheit, einfach alles! Sechzehnerbahn eben. Ich jubelte, genoss den Moment und versuchte alles aufzusaugen. Dann war es vorbei. 2:31:42 Stunden, 42,195 Kilometer und jede Menge Training lagen hinter mir. 33 Sekunden lag ich am Ende unter meiner bisherigen Bestzeit. Zudem hatte ich die nächste Minutenhürde genommen, war viertbester Deutscher geworden und hatte auch bei meinem 22. Marathonstart erfolgreich gefinisht.

Von den ausgesprochen freundlichen Helfern bekam ich einige hundert Meter nach der Ziellinie meinen Kleiderbeutel, in den noch auf der Marathonmesse das Finishershirt, die Medaille und Getränke gepackt wurden. Die darauffolgenden Stunden verbrachte ich unweit der Zielgeraden, wo ich nicht nur die Speicher wieder auffüllen, sondern in erster Linie den besonderen Spirit des London-Marathons spüren und genießen konnte, indem ich die langsameren Teilnehmer auf ihren letzten Metern anfeuerte und einmal mehr den Moment genoss.

Ein Mix aus purer Freude und großer Dankbarkeit

Noch vor Ort versuchte ich das Erlebte einzuordnen. Mit meiner sportlichen Leistung konnte ich sehr zufrieden sein, schließlich hat die Marathondistanz seine eigenen Gesetze und wie ich im Frühjahr 2021 erleben musste, läuft man mit dem besten Training nicht immer auch den besten Marathon. Zudem war ich dankbar, all den Läufern und vielen weiteren Menschen in London begegnet zu sein. Nie zuvor hatte ich bei einem Marathon eine solche Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit erlebt. Besonders hervorzuheben war darüber hinaus die herausragende Stimmung an der Strecke. Wäre mir nicht spätestens bei der Abreise wieder klar geworden, dass die Pandemie nach wie vor ein Thema ist, hätte ich dieses Dauerthema wohl fast vergessen. Die Anzahl der Läufer und Zuschauer sowie die angesprochene Stimmung und auch das Lauferlebnis waren schließlich so, als wäre Corona bereits Vergangenheit. Genial, dass man es in London geschafft hat, einen riesigen Marathon mit 40.000 Startern auf die Beine zu stellen, bei dem man sich durch angemessene, aber keineswegs überzogene Maßnahmen durchgehend sicher fühlen und gleichzeitig ohne übertriebene Einschränkungen Teil eines begeisternden Mega-Events sein konnte. Gerne mehr davon!

Jonas Müller beim London-Marathon 2021
RUNNER'S WORLD
Rund 40.000 Läufer belohnten sich in London mit der Marathon-Medaille des 41. London-Marathons.

Zurück in der Normalität des Alltags läuft die Regeneration. Gleichzeitig kribbelt es aber bereits wieder. Ewig werde ich nicht warten, um dann wieder durchzustarten und vollen Einsatz für einen weiteren dieser unvergesslichen Momente zu geben. Wann und wo werden wir sehen. Ein Marathon steht aber (nochmal) ganz oben auf meiner Liste der Marathons, bei denen ich unbedingt noch starten möchte: London!