Sitz aufrecht! Spann den Rumpf an, streck die Brust raus, zieh den Bauch ein, mach dich gerade! Ständig erzählen uns Sportlehrer, Fitness-Coaches und andere Expertinnen und Experten, wir sollten die Muskeln spielen lassen, um Körperspannung aufzubauen und zu halten. Aber tun wir unserem Körper damit auch wirklich etwas Gutes?
Wenn Sie den Physiotherapeuten Freddie Murray in seiner privaten Praxis im vornehmen „The Ned Hotel“ in London besuchen, treffen Sie auf einen Mann, der gebeugt, mit hängenden Schultern und gekreuzten Beinen dasitzt, während er den Beschwerden seiner Patienten auf den Grund geht. Das erstaunt bei einem Experten, dessen berufliche Aufgabe es ist, Hochleistungssportler und Prominente körperlich optimal auszurichten.
Zu Murrays Patienten gehören Fußballer der Premiere League und Popstars wie Dave Grohl, der Sänger der Band Foo Fighters, den der Physiotherapeut nach einer Beinverletzung wieder auf Vordermann gebracht hat. Wie kann es sein, dass ein Spezialist, der andere wieder aufrichtet, selbst so wenig Haltung an den Tag legt? Laut Murray ist es genau diese körperliche Entspanntheit, die Ihre Muskeln fit macht und die Sie deshalb für den größten Teil des Tages anstreben sollten.
Muskeln nicht im Hintergrund aktiviert halten
„Muskeln sind wie Lichtschalter, sie sollten entweder an oder aus sein, und keiner dieser beiden Zustände bereitet dem Körper Probleme“, sagt er. „Doch wenn die Muskeln, während Sie sich eigentlich ausruhen, wie ein Dimmer ständig im Hintergrund aktiv sein müssen, ermüden sie rasch, was zu erhöhter Anspannung, Muskelsteifheit und Schmerzen führt.“ Tatsächlich sind viele Experten inzwischen überzeugt, dass Stress, der einen permanent unter Spannung hält, im Verbund mit auf die Aktivierung und Stärkung von Muskelgruppen fokussierten Trainingsprogrammen zu vermehrten Muskelverletzungen führt.
Schnelltest: Sind Sie entspannt?
Mit diesem Schnelltest können Sie überprüfen, ob sich Ihr Körper im Kampf-oder-Flucht-Modus befindet:
Platzieren Sie eine Hand auf Ihrem Bauch und eine auf Ihrer Brust und atmen Sie normal ein. Falls sich die Hand auf Ihrer Brust zuerst hebt, nutzen Sie zum Atmen Ihre Nacken- und Atemmuskulatur und nicht Ihr Zwerchfell.
Wenn Sie sich eine Minute Zeit nehmen, um das Atmen tief aus dem Bauch heraus zu üben, entspannt das unmittelbar die genannten Muskeln.
Daueranspannung ist problematisch
Der ständige Stress, dem unser Körper ausgesetzt ist, kann zu einer ganzen Reihe von gesundheitlichen Problemen führen. Ein Beispiel für die negativen Folgen dieser Daueranspannung ist das Zähneknirschen: Das unbewusste Zusammenpressen der Kiefermuskulatur führt zu chronischen Schmerzen und Zahnproblemen.
Fast schon zu einer Volkskrankheit geworden sind Probleme des Bewegungsapparats sowie entlang der gesamten Wirbelsäule. Die meisten von uns leiden unter Verspannungen von Schultern und Nacken sowie Schmerzen im unteren Rückenbereich. Die treten vor allem dann auf, wenn es bei der Arbeit oder zu Hause nicht richtig läuft. Wenn man doch nur mal den Aus-Knopf finden und entspannen könnte!
Entspannung ist normal und gesund
Das Problem dabei: In unserer heutigen auf Leistung und perfekte Körperbilder fixierten Zeit verkaufen sich simple Selbstoptimierungstricks besser als grundlegende Kritik. Tipps, wie man durch körperliches Training seine Haltung korrigiert oder die Muskeln stärkt, gibt es im Dutzend billiger, aber kaum einer traut sich, die Ursachen zu benennen – unsere Fixiertheit auf makellose Körper und unbedingten Arbeitswillen. „Die Gesellschaft schätzt es nicht, wenn die Leute krumm dastehen und ihren Bauch entspannen – das sieht auf Instagram nicht gut aus“, erklärt Murray. „Aber es ist keine Sünde, sich zu entspannen, auf dem Sofa zu fläzen und die Bauchmuskeln locker zu lassen.“
Sich mal so richtig hängen zu lassen, so betont Murray, ist tatsächlich normal und gesund, schon deshalb, weil es den Körper ermutigt, vom sympathischen Nervensystem, das unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion antreibt, auf das parasympathische System umzuschalten, das dafür zuständig ist, Energie einzusparen, den Herzschlag zu senken und den Körper zu entspannen.
Regeneration statt Stärkungsübungen für den Rumpf
Auch Peter O’Sullivan, Professor für muskuloskelettale Physiotherapie an der Curtin University im australischen Perth, bemüht sich, die vorherrschende Meinung in Bezug auf die Behandlung von Muskelschmerzen ins Wanken zu bringen. Nach seiner Überzeugung beruht das Problem großteils auf der Maxime, dass starke Bauchmuskeln unabdingbar für die Fitness seien. Dieser Trend setzte ihm zufolge vor 15 Jahren ein. Damals begannen die Ärzte, Patienten, die unter chronischen Rückenschmerzen litten, Bewegungsübungen zur Stärkung des Rumpfs zu verschreiben. Man sagte ihnen, sie sollten ihre Bauchmuskeln anspannen und mit statischen Liegestützen den quer verlaufenden Bauchmuskel Transversus abdominis, den am tiefsten sitzenden Muskel im Bauchbereich, trainieren. Bei einigen funktionierte das, bei vielen wurde das Problem dadurch aber zum Dauerzustand.
In den letzten Jahren hat O’Sullivan die wissenschaftlichen Studien zum Thema analysiert und glaubt nun, den Fehler gefunden zu haben:
„Eine verstärkte Aktivierung der Bauchmuskeln führt zu einer Aktivierung der Rückenmuskulatur und einer Anspannung der Wirbelsäule“,
erläutert Murray die These seines Kollegen. Infolgedessen verspannt sich der gesamte Körper.
Was ist eine gute Haltung?
O’Sullivans Erkenntnisse haben zudem zu einer Neubewertung der Relevanz einer „guten“, aufrechten Haltung geführt. „Bis dato konnte keine einzige Untersuchung einen Zusammenhang zwischen der Körperhaltung und Verletzungen oder Schäden des Bewegungsapparats oder der Entwicklung von Schmerzzuständen nachweisen“, sagt Eyal Lederman, Osteopath und Dozent am University College in London. „Wenn Sie Schmerzen haben, dann ist die Haltung, die Sie beim Sitzen oder im Stehen einnehmen, eher nicht der Grund dafür.“
Tatsächlich gibt es so etwas wie eine perfekte Körperhaltung gar nicht. Das zeigt zum Beispiel eine in der Fachzeitschrift „Manual Therapy“ veröffentlichte Studie, in der 295 Physiotherapeuten befragt wurden, was ihrer Ansicht nach eine neutrale Wirbelsäulenposition oder gute Sitzhaltung darstelle. Die Mehrheit sprach sich für eine Sitzposition aus, die „der natürlichen Form der Wirbelsäule entspricht und ohne übertriebenen Muskeltonus bequem und/oder entspannt erscheint“.
Behandlung von akuten Rückenschmerzen
Murray zufolge ist auch bei akuten Rückenschmerzen die natürliche Regeneration wirkungsvoller als hektische Stärkungsübungen. „Tendenziell verschwinden die Beschwerden nach sechs bis acht Wochen meist von selbst, weil die Wirbelsäule so stark ist. Den Bauch anzuspannen ist bestenfalls unnötig und schlimmstenfalls schädlich.“ Wenn Sie ständig die Muskeln aktivieren, lernen Sie nie, auf die natürliche Stärke Ihres Körpers zurückzugreifen.
Stress, Muskelspannung und Schmerzen verstärken sich gegenseitig: Stress verursacht Spannungen, die wiederum führen zu Schmerzen und damit zu mehr Stress. Wenn der äußere Stress sich nicht verringern lässt, kann man immerhin dafür sorgen, dass die (Muskel-)Spannung reduziert wird, und so den Teufelskreis unterbrechen. Indem Sie Muskeln lockern, vermindern Sie nicht nur schmerzhafte Spannungen, sondern senden ein Signal an das zentrale Nervensystem, in dem sowohl Stress- als auch Schmerzerfahrungen verarbeitet werden. „Da die Schmerzerfahrung ihren Sitz im Nervensystem hat, wird sie leicht durch Gefühle und Stimmungen beeinflusst“, sagt Osteopath Lederman. „Dies könnte erklären, warum Entspannung, die ebenfalls ein Prozess innerhalb des zentralen Nervensystems ist, dazu führen kann, dass die Schmerzen nachlassen.“
Das richtige Maß finden
Den Experten zufolge sollten Sie sich auf den Einsatz jener Muskeln konzentrieren, die Sie wirklich zur Bewegung brauchen. „Viele Menschen glauben, dass sie ihre tiefe Rumpfmuskulatur korrekt einsetzen, doch in Wahrheit überlasten sie sie“, erklärt die Pilates-Trainerin Lynne Robinson. „Um sich gut zu bewegen, benötigen Sie Muskeln, die mit der optimalen Stärke und Kontraktion arbeiten und von einem gesunden Nervensystem in der richtigen Reihenfolge und im richtigen Maß aktiviert werden. Gut aufeinander abgestimmte Gelenke haben eine gute Bewegungsreichweite, sind stabil und haben Bänder von idealer Länge und Spannung sowie ein Fasziennetz, das genau das richtige Maß an Nachgiebigkeit und Straffheit aufweist.“
Pilates für Muskelharmonie
Pilates ist eine gute Trainingsmethode, um diese Muskelharmonie zu erreichen. „Dabei trainieren Sie Ihren Körper, locker zu stehen, zu sitzen und sich zu bewegen, damit dies zu einem Automatismus wird, der völlig unbewusst abläuft“, so Robinson.
Murray seinerseits ist daran interessiert, die Idee einer ständigen Aktivierung der Muskeln ganz aufzugeben und einen holistischen Ansatz zu verfolgen. Ihm geht es darum, Stress abzubauen. „Jeder hat mal Verspannungen und Schmerzen. Doch inzwischen wissen wir, dass der Körper – einschließlich des Rückens – von Natur aus robust ist“, sagt er. „Wenn Ihr Schlaf und Ihre körperliche Betätigung allerdings gestört sind und Sie unter starkem Stress leiden, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich verspannen und Schmerzen haben. Ich habe gelernt, Schlaf mehr denn je wertzuschätzen – ich nehme jeden Abend ein heißes Bad, um zu entspannen, und wechsele meine Trainingssitzungen ab, weil Bewegungsvielfalt wohltuend ist.“
Und er ergänzt: „Ihren Lebensstil zu ordnen ist ein großartiges Mittel, um Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden zu verbessern.“ Also gönnen Sie sich eine Pause und entlasten Sie Ihren Körper.
Übungen gegen Verspannungen
Zum Abschluss zeigen wir Ihnen vier simple, aber wirksamen Übungen, die von unseren befragten Expertinnen und Experten empfohlen werden. Mit ihnen können Sie Muskelverspannungen entgegenwirken und so Schmerzen und Daueranspannung vermeiden.
Bauchatmung

„Nehmen Sie sich ein paarmal täglich zwei Minuten Zeit, um Ihre Atmung zu normalisieren“, sagt Freddie Murray. „Platzieren Sie eine Hand über Ihrem Schambein und atmen Sie durch die Nase tief in den Bauch hinein. Achten Sie darauf, wie sich Ihre Hand hebt und senkt. Machen Sie tiefe Atemzüge, und gehen Sie dann weiter zur lateralen Brustatmung. Legen Sie Ihre Hand auf Ihren unteren Brustkorb und atmen Sie tief in den unteren Brustkorb und Rücken hinein.“
Körperscan

„Nehmen Sie sich 20 Sekunden Zeit, um Ihren Körper auf angespannte Bereiche zu scannen“, sagt Eyal Lederman. „Machen Sie sich das Gewicht Ihrer Füße auf dem Boden, Ihrer Oberschenkel und Ihrer Hüfte auf dem Stuhl und Ihres auf der Rückenlehne lastenden Oberkörpers bewusst. Fühlen Sie, wie Ihre Arme schwer und Ihr Nacken weich werden. Wiederholen Sie die Übung mehrmals täglich, wenn Sie Anspannung verspüren oder Ihre Schmerzen zunehmen.“
Schultern kreisen

„Stellen Sie sich vor, Sie würden mit den Schultern ein Viereck malen“, sagt Pilates-Expertin Lynne Robinson. „Schieben Sie beide Schultern etwas vor, so als bewegten Sie sie den Boden zweier Schachteln entlang, und dann aufwärts entlang der Vorderseite der Schachteln. Ziehen Sie sie entlang der Oberseite der Schachteln nach hinten zurück, und lassen Sie sie anschließend zurück auf den Schachtelboden sinken. Wiederholen Sie das 5-mal, mit durchgestrecktem Rückgrat.“
Kopf kreisen

„Wenn Sie feststellen, dass sich Ihr Nacken bei der Arbeit am Schreibtisch mal wieder verspannt, machen Sie diese einfache Kopfübung. Stellen Sie sich dafür eine Acht direkt vor Ihrer Nase vor“, sagt Robinson. „Verfolgen Sie die Konturen der Acht mit Ihrer Nase nach, dabei soll sich der gesamte Kopf mitbewegen. Beginnen und enden Sie in der Mitte. Machen Sie das mehrmals in beide Richtungen, das entspannt die kleinen Muskeln im oberen Nackenbereich.“