Christian Brott, 54, leitender Maschinist aus Berlin wurde bei einem Zugunglück verletzt und erlitt ein schweres Trauma. Ein Schnellzug raste in die Baustelle, in der er als Bauleiter mit seinem Team arbeitete. Auch heute, 17 Jahre später, gerät er in manchen Situationen in Panik. Doch Christian entwickelte eine ganz eigene Therapie, die ihn physisch und psychisch fit hält: Er läuft seinen Ängsten erfolgreich davon.
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„Das Laufen hat mich befreit und immer wieder aufstehen lassen“, sagt Christian und fügt hinzu: „Jeder Mensch sollte etwas für sich finden, das ihm Freude macht und gleichzeitig dabei hilft, Dinge zu verarbeiten. Bei mir war es der Sport, der mir nach einem schweren Schicksalsschlag eine gewisse Lebensqualität zurückgegeben hat. Laufen ist seither mein Tor zur Ausgeglichenheit im Alltag.“
Zum Schicksalstag kam es Anfang November 2002. Christian war damals als Bauleiter für die Deutsche Bahn auf dem Gleisnetz im Einsatz, als sich auf seiner Baustelle ein Zugunglück ereignete. „Diesen schwarzen Tag in meinem Leben werde ich nie vergessen. Ein Schnellzug wurde von den Mitarbeitern des Stellwerks in unsere Baustelle eingelassen. Es gab viele Verletzte. Ich selbst war auch verletzt und bin Monate später zusätzlich an einer posttraumatischen Störung erkrankt“, berichtet er.
Noch heute, 17 Jahre danach, gerät er manchmal in Panik
Die schwerwiegenden psychosomatischen Folgen zeigten sich erst ein halbes Jahr nach dem Unglück: „mit dem Verlust der Motorik, begleitet von Zittern am ganzen Körper, Ängsten, Flashbacks und Albträumen. Am Unglückstag hatte es geregnet. Es passierte abends, im Dunkeln. Wenn ich in ähnliche Situationen gerate, also Dunkelheit verbunden mit Regen und Enge, dann bekomme ich Panikattacken.“
Christian erlitt damals schwere Verletzungen am Fuß und Bein: „Ich habe am linken Fuß meinen großen Zeh und den zweiten Zeh verloren. Meine Strecksehne am linken Bein wurde zerstört. Ich rolle seither über die linke Seite ab. Das neue Abrollverhalten musste ich in einer Physiotherapie aber erst lernen. Als Spätfolge dieses Unfalls erlitt ich einen Bandscheibenvorfall, denn meine Wirbelsäule wurde gestaucht. Das führte dazu, dass ich 2011 operiert werden musste“, berichtet er von seiner langen Leidensgeschichte.
Nach dem Unfall musste Christian ein ganzes Jahr im Krankenhaus und in der Reha verbringen. 2004 folgte der Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Er konnte sich umschulen lassen: Heute arbeitet er als Fachtrainer und Prüfer in der Ausbildung junger Maschinenspezialisten. „Bei Dunkelheit muss ich zum Glück nicht mehr auf die Gleise.“ Zurück bleibt aber ein Handicap, das man ihm nicht ansieht – auch nicht beim Laufen: „Ich habe einen Behinderungsgrad von 50 Prozent.“ Ein Handicap ab dem Grad der Behinderung von 50 gilt als Schwerbehinderung. Dennoch spürt Christian fast keine Einschränkung beim Sport, „aber ich muss auf gute Laufschuhe achten, die wirklich passen.“ Außerdem muss er regelmäßig zur Rückenschule.
„Nach dem Unfall nahm meine Laufleidenschaft zu.“
Der Laufsport war schon immer seine Leidenschaft. „Doch nach dem Unglück nahm das noch zu. Ich begann an Laufveranstaltungen teilzunehmen. Das gab mir viel. Die Geselligkeit unter Läufern mag ich.“ Bereits im Jahr nach seiner Genesung, 2004, startete er bei vier bis fünf Veranstaltungen jährlich – Halbmarathons sowie 10-Kilometer-Läufen.
„Diese Bilanz behielt ich viele Jahre bei, und auch heute nehme ich noch ein paarmal im Jahr an Läufen teil. Besonders schön fand ich die Halbmarathons in Malta, Luxemburg und Lissabon sowie den Fünf-Seen-Lauf in meiner alten Heimat Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern. Das ist einer meiner Stammläufe.“ Bei den Halbmarathons schaffte er trotz Behinderung Zeiten von unter 1:50 Stunden. Eine Einschränkung spürt er aber doch: Länger als 30 Kilometer am Stück kann Christian seiner fehlenden Zehen wegen nicht laufen. Die volle Marathondistanz bleibt für ihn tabu.
Seit mittlerweile 17 Jahren wirkt seine „Lauftherapie“
40 Kilometer pro Woche ist sein derzeitiger Trainingsschnitt. Dabei läuft er gern mit seinem Sohn Markus oder den beiden sportlichen Söhnen seiner Lebensgefährtin. „Die Nähe zur Natur und die frische Luft, das mag ich am Laufen am liebsten.“
Im Sommer ist die Welt für Christian in Ordnung. Doch im Herbst, wenn die dunkle Jahreszeit kommt, kehrt auch die Erinnerung zurück. „Vor allem wenn der Jahrestag des Unglücks sich nähert, dann ist alles andere plötzlich auch wieder ganz nah.“ Oder wenn er mit dem Auto durch einen Tunnel fahren muss. Manchmal auch, wenn er ein Feuer sieht. „Dann schießen mir die schrecklichen Bilder wieder ins Gehirn.“ Seine Unfallpsychologin hilft ihm, das Geschehene mit Worten zu verarbeiten. Und dann ist da ja noch seine Therapie Nummer zwei. Beides zusammen, Rennen und Reden, wirkt gut – seit mittlerweile 17 Jahren…