Interview mit Prof. Oliver Stoll
Kommen Läufer leichter durch die Corona-Krise?

Diese und viele weitere Fragen beantwortet Sportpsychologe Prof. Oliver Stoll im Interview.
Corona-Blues
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Mit dem Corona-Virus erleben wir etwas, das wir zuvor nicht kannten: Es ist ein kollektiver Kollaps unserer Gesellschaft, der auch die Laufszene hart trifft. Wir müssen Abstand voneinander nehmen, können uns nicht zum Laufen verabreden. Vereine sind geschlossen. Der Einstieg in die Laufsaison 2020 fällt aus, weil unsere Lieblingsläufe abgesagt wurden. Das Laufen kann uns in Zeiten von Kurzarbeit und Homeoffice aber auch dabei helfen, Struktur in unseren Alltag zu bringen. Denn gerade in dieser verrückten Zeit ist es so wichtig – für Körper und Psyche. Die meisten Läufer haben mehr Zeit zum Trainieren. Viele finden gerade jetzt den Einstieg zum Sport.

Themenspecial zum Coronavirus

Unsere Redakteurin Irina Strohecker hat mit Professor Oliver Stoll gesprochen. Er ist Professor für Sportpsychologie und Sportpädagogik an der Universität Halle-Wittenberg und gefragter Experte zum Thema Psyche und Sport in Zeiten von Corona.

Sportpsychologe Prof. Oliver Stoll im Interview
Privat
Sportpsychologe Prof. Oliver Stoll im Interview

Die Olympischen Sommerspiele wurden verschoben, sämtliche Marathons abgesagt. Profi- und Hobbyläufer sind gleichermaßen frustriert, weil ihre Auftaktveranstaltung in die Saison ins Wasser fällt. Wen trifft das am härtesten?

Für die Profis ist das natürlich am schlimmsten, denn für sie geht es um existentielle Fragen, da sie ihr Einkommen mit dem Sport verdienen. Da fragt sich sicher der eine oder andere: Kann ich meine Familie weiterhin ernähren? Aber klar ist es für den ambitionierten Läufer auch schlimm, jedoch nicht existentiell.

Viele Läufer haben sich gezielt mit einem Trainingsplan monatelang auf einen Lauf vorbereitet, der nun ausfällt. Wie geht man mit der Enttäuschung um?

Da gibt es drei Phasen, die nacheinander ablaufen. Erst mal kommt es zu einer mehr oder weniger großen Traurigkeit. Danach versucht man das Ganze abzuhaken. Und anschließend orientiert man sich neu, was zum Beispiel eine Verschiebung der Ziele bedeuten könnte. Man könnte sie in den Herbst verschieben, die großen Laufveranstaltungen im Herbst werden ja hoffentlich stattfinden. Richtig hart trifft es die Triathleten, die sich ja mit einem Punktesystem qualifizieren. Sie können jetzt keine Punkte sammeln.

Könnte ein Läufer sein Ziel trotzdem zeitgemäß verfolgen, kreativ umdenken und einen Solo-Lauf aus dem anvisierten Wettkampf machen?

Ja, das passiert derzeit häufig. Dieses Phänomen lässt sich bei verschiedenen Läufen schon beobachten. Ein Event läuft dann online über Tracking ab, jeder macht also seinen eigenen Lauf draus. Dies passiert beispielsweise schon bei einzelnen Laufveranstaltungen und es werden sicher bald noch mehr.

Jede Minute gibt es Schreckensnachrichten, neue Zahlen zu Infizierten und Toten, das macht vielen Angst. Wie kann man mit dieser Angst umgehen?

Ausdauersportler sind in dieser Zeit privilegiert, denn wir Läufer gehören nicht unbedingt zur Risikogruppe. Wer seit einem Jahr regelmäßig läuft, erfreut sich eines gesunden Herz-Kreislaufsystems und hat eine gute Lungenfunktion. In der Regel haben wir Läufer auch ein intaktes Immunsystem. Wir kommen also ganz gut durch die Krisenzeit.

Sollten wir unser Training anpassen, um uns bloß nicht zu erkälten?

Ja, wir sollten umdenken in Bezug auf Intensität. Nicht zu hart trainieren: moderat intensiv. Ich selbst habe mein Training nicht umgestellt, da ich sowieso keine intensiven Einheiten trainiere. Ich bin seit über zwei Jahren Streakrunner, laufe also jeden Tag, aber immer moderat.

Was können wir tun, wenn wir vom Nachbarn schief angeschaut werden, weil wir schon wieder laufen – in dieser Pandemie-Krise, in der viele nicht vor die Haustür gehen?

Ich kenne das gut, weil ich Streakrunner bin. Da gibt es manchmal böse Blicke. Aber im Moment fällt mir das nicht auf. Ich finde, in meiner Heimat sind alle noch halbwegs vernünftig. Ich hoffe aber nicht, dass der Tag kommt, an dem mich die Polizei auf meiner Laufrunde anhält!

Was können wir gezielt beim Lauftraining tun, um unserer Psyche etwas Gutes zu tun?

Eigentlich nur laufen, wie bisher. Die antidepressive Wirkung des Laufens ist sehr gut belegt. Es wirkt sich positiv auf unsere Stimmung aus.

Was können wir über das Laufen hinaus für unsere Psyche tun?

Auf uns achtgeben und uns mit Menschen umgeben, die uns guttun. Es ist wichtig, vor allem bei Homeoffice, dem Tag eine Struktur zu geben. Damit haben jetzt viele, die zu Hause arbeiten, eventuell ein Problem. Denn in ihrem normalen Berufsalltag sind sie unter Menschen, im Büro, wo es eine vorgegebene Struktur gibt. Die ist jetzt plötzlich weg. Das kann man aber auffangen mit einer Zielsetzung. Dazu kann man auch das Laufen gut einsetzen. Zum Beispiel kann man sich am Vortag ein Arbeitsziel für den nächsten Tag vornehmen und dann in der Pause laufen gehen, um den Arbeitstag in verschiedene Bereiche einzuteilen.

Wir dürfen uns nicht zum Laufen verabreden. Wie können wir uns trotzdem mit anderen Läufern verbunden fühlen?

Ja, das ist schon bitter. Da muss man sich umstellen. Wem der Austausch darüber wichtig ist, muss sich auf die sozialen Medien berufen. Hier ist dies ja weiterhin möglich. Insgesamt lässt sich sagen, dass es momentan intrinsisch motivierte Läufer leichter haben als extrinsisch Motivierte.

Also eher die Genussläufer, denen Medaillen und Urkunden nicht so wichtig sind?

Ja, und die auch nicht so sehr auf den Zuspruch anderer angewiesen sind, sondern gerne alleine ihre Runde drehen.

Sind die digitalen Medien unsere Rettung, oder gibt es Ihrer Meinung nach auch Schwachstellen, bei denen Vorsicht angebracht ist? Experten warnen zum Beispiel vor Suchtverhalten, vor allem bei Kindern.

Kinder trifft die Krise ganz besonders hart, da sie zum Teil drinnen oder zu Hause bleiben müssen. Das entspricht nicht ihrem großen Bewegungsdrang. Das mit dem Suchtverhalten kann man schwer abschätzen. Wir Wissenschaftler sammeln dazu in dieser Zeit Daten. Meine Vermutung ist aber, dass Mediensucht gerade bei naturverbundenen Läufern keine Rolle spielt. Wir Läufer sind digital unterwegs und trotzdem am liebsten in der Natur, da kann ich keine Neigung zu Suchtverhalten erkennen.

Wie wirken die Ausgangs- und Abstandsregeln auf unsere Psyche: eineinhalb Meter Abstand voneinander, maximal zu zweit auf der Laufrunde. Wenn einer von beiden hustet, fürchtet sich der andere. Untergräbt das nicht soziales Verhalten?

Nein. Ja, es ist ein krasses Umstellen. Aber dazu muss man einen Aspekt unserer menschlichen Psyche bedenken. Wir Menschen haben zwei Zonen der Nähe: Die eine ist nur gering, nämlich 30 Zentimeter Abstand. So nah an uns ran lassen wir in der Regel aber nur ganz vertraute Menschen, wie Familie und engste Freunde. Das ist ganz wichtig für uns; sozusagen ein Sicherheitsabstand. Dann gibt es die zweite, weitere Zone von bis zu einem Meter. Das ist, was wir gewohnt sind; so verhalten wir uns mit Fremden. Diese Zone lässt sich problemlos ein bisschen ausdehnen, das ist ein Lernprozess. Es geht nicht von heute auf morgen, aber da gewöhnen wir uns dran.

Auf wen könnte sich psychisch gesehen diese Krise am schlimmsten auswirken?

Ich denke, wir müssen sehr gut auf unsere Senioren achten. Im Einzelfall könnte Vereinsamung zum großen Problem werden. Auch bei Menschen, die noch nicht alt sind, aber gesundheitlich angeschlagen und jetzt mit Ängsten alleine zu Hause sitzen müssen. Und Menschen, die vor der Krise schon labil bzw. psychisch beeinträchtigt waren.

Es gibt auch gute Nachrichten, zum Beispiel ist die Luft so sauber wie nie zuvor, Flüge werden voraussichtlich nach der Corona-Krise teurer, die Bahn ist bereits günstiger. Ist Corona also gut für die Natur?

Die Umwelt scheint zu profitieren, jedenfalls in Einzelfällen. Ob das aber langfristig anhält oder zu einem Umdenken bei den Menschen führt, bleibt nur eine Vermutung, die wir erst im Nachhinein überprüfen können.

Auf meiner Hausrunde treffe ich Jogger, die ich zuvor nie gesehen habe. Bringt die Krise die Leute zum Laufen?

Das ist auch mein Eindruck. Wir machen eine Studie dazu: Gemeinsam mit vielen anderen Universitäten untersuchen wir die Aktivität vor, während und nach der Corona-Pandemie. Mal abwarten, was da rauskommt. Klar ist, dass der eingefleischte Couch-Potato sicherlich auch in der Krise nicht zum Läufer wird. Aber es passiert eine Verlagerung. Alle Sporthallen, Schwimmbäder und Fitness-Studios sind geschlossen. Es kommen somit Leute auf die Laufrunde, die zuvor einer anderen Sportart nachgingen.

Mir fällt dies bei allen unkompliziert auszuführenden Sportarten auf, also auch dem Radfahren. Die Leute gehen raus, radeln oder laufen vermehrt, oder?

Ja, das beobachte ich auch. Mal sehen, was die Daten dazu hergeben werden. Vielleicht gehen wir ja sogar fitter aus der Krise hervor.

Im Wald tummeln sich Menschen, denn die öffentlichen Plätze sind gesperrt. Familien verbringen mehr Zeit miteinander. Die Jungen gehen für Senioren einkaufen. Ehrenamtliches Engagement ist vielerorts groß. Wir Menschen scheinen uns wieder auf das Wesentliche zu besinnen. Belebt die Krise alte Werte neu?

Das ist durchaus denkbar und ein logischer Gedankengang. Dafür gibt es aber keine Studien.

Bringt die Krisenzeit für Sie persönlich auch positive Entwicklungen mit sich?

Ja. Zwei Dinge: Zum einen musste ich mich jetzt mit digitalen Medien auseinandersetzen. Denn unser Sommersemester hat begonnen und die Lehre wurde komplett auf digital umgestellt. Ich habe mich drei bis vier Wochen eingearbeitet und halte nun Videokonferenzen. Das war früher für mich unvorstellbar. Ich sehe dies als persönliche Weiterentwicklung an. Der zweite Punkt ist die Folge vom ersten: Mein Leben hat sich dadurch entschleunigt, was ich schön finde. Früher bin ich viel gereist, um mich mit meinen Kollegen über den Wissensstand auszutauschen. Momentan läuft das digital ab. Mein Leben ist dadurch ruhiger geworden und ich habe mehr Zeit für Hobbys, wie zum Beispiel Laufen.

Oliver Stoll Professor für Sportpsychologie und Sportpädagogik an der Universität Halle-Wittenberg bei Leipzig (www.sport.uni-halle.de). Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er sportpsychologischer Berater des Leistungssports (Nationalmannschaft, Olympia, Verband, Marathonelite) und Autor wissenschaftlicher Bücher der Bereiche Sportpsychologie sowie Laufen. Momentan ist Oliver Stoll zudem ein gefragter Experte zum Thema Psyche und Sport in Zeiten von Corona (unter anderem für die ARD-Sportschau-Sprechstunde).