Wer regelmäßig läuft oder anderen Sport treibt, tut sich selbst etwas Gutes. Doch das Ganze kann sich auch ins Gegenteil wenden. Es gibt Fälle, da richtet sich der Alltag gänzlich nach dem Trainingspensum aus. Betroffene trainieren täglich intensiv und stundenlang – nicht weil ihnen die Bewegung so viel Spaß macht, sondern weil sie süchtig danach geworden sind. Laufen wird dann zum Zwang.
Was ist eine Sportsucht? Definition und Abgrenzung
Dass Sporttreiben gesund ist, ist unumstritten. Bei einer Laufsucht oder Sportsucht nimmt der Sport allerdings so ein Übermaß an, dass es ungesund wird. Umfang und Intensität der Sporteinheiten werden maßlos gesteigert, Betroffene trainieren stundenlang und intensiv, bis zum Kollaps. Der Übergang von moderat gesund zu exzessiv ungesund ist oft fließend und kann schleichend oder auch abrupt eintreten. Kann der Sport nicht ausgeübt werden, entsteht ein extremer Leidensdruck für Betroffene.
Laufsucht kann schnell gefährlich werden, denn Laufsüchtige brauchen das Training und können nicht mehr darauf verzichten: Es wird zu „ihrer Droge“. Deshalb laufen Süchtige auch mit Krankheiten, beispielsweise wenn sie erkältet sind. Statt auf den Körper zu hören, laufen sie einfach weiter.
Fakt ist: Die Sportsucht hat bisher keinen Eintrag im Klassifikationssystem für psychische Störungen. Somit ist sie noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und wird eher als Begleiterscheinung anderer psychischer Erkrankungen eingeordnet. Die Sucht nach Sport wird zwar schon seit Jahrzehnten wissenschaftlich beschrieben, gilt aber nur als ein Phänomen im Bereich der Verhaltenssüchte. Außerdem fehlt es an aussagekräftigen Langzeitstudien zur Sportsucht. Dennoch kann sie ähnliche gefährliche Folgen wie die Spielsucht haben: soziale Isolation, gesundheitliche und mentale Probleme bis hin zur Depression.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Menschen, die leidenschaftlich Sport treiben, und denen, die süchtig danach sind. Jemand, der leidenschaftlich seine Ziele verfolgt, wird traurig sein, wenn er, etwa aufgrund einer Verletzung oder Erkältung, nicht trainieren kann. Doch der Leidensdruck eines mental gesunden Sportlers ist sehr viel geringer als der von Sportsüchtigen. Wer gesund trainiert, dem ist bewusst, wie wichtig Regeneration und das Auskurieren von Laufverletzungen und Erkältungen sind.
Ab wann ist Sport eine Sucht?
Erste Anzeichen einer Sportsucht sind, ähnlich wie bei anderen Süchten, die kontinuierliche Dosissteigerung (immer mehr und immer intensiver) und das Gefühl, dass sich der komplette Alltag nach dem Sport richtet. Ein extrem hoher Zeitaufwand wird zum Sporttreiben aufgewendet, alles andere steht hinten an, sowohl Berufliches als auch Privates. Darunter leiden auch die sozialen Kontakte. Betroffene beginnen, sich zu isolieren.
Typische Symptome: So erkennst du deine Sportsucht
Betroffenen ist es beinahe unmöglich, keinen Sport zu machen. Jemand, der sportsüchtig ist, läuft oder trainiert im schlimmsten Fall sogar erkältet oder verletzt. Eine Sportsucht ist auch an den Entzugserscheinungen zu erkennen, sollten Betroffene auf den Sport verzichten müssen: Magen-Darm-Probleme, starke Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Nervosität, Angstgefühle bis zu Depressionen können dann die Folgen des Entzugs sein.
Abgrenzung Hyperaktivität und Sportsucht: Wichtig ist, zwischen Läuferinnen und Läufern, die zur Hyperaktivität neigen, und den Sportsüchtigen zu unterscheiden. Menschen mit Hyperaktivität können nicht lange stillsitzen. Der Begriff stammt aus dem Griechischen „hyper“ (für über) und dem Lateinischen „agere“ (für handeln). Es ist ein weites Feld, und auch hier gibt es natürlich die ganze Bandbreite von leicht bis stark hyperaktiv (bis zu ADHS), was mit Konzentrations- und Verhaltensauffälligkeiten einhergeht. Im leichten Fall besteht aber nur ein erhöhter Bewegungsdrang. Das sind die „Bewegungsmenschen“ oder „Bewegungswunder“: Sie können zwar nicht lang ruhig sitzen, sind aber oft begabt für viele Sportarten und führen auch meistens etliche aus. Es besteht kein Grund zur Sorge, das ist keine Sportsucht.
Hyperaktive Kinder erkennt man schnell an ihrer „Zappeligkeit“ (sie kippeln mit dem Stuhl, rennen am liebsten, statt zu gehen). Sie sind in der bewegten Schule oder in Sportklassen gut aufgehoben, weil sie sich dort mehr bewegen dürfen. Sie können in diesem Fall meistens ganz normal lernen, wie alle anderen Kinder auch.
Ursachen: Wie entsteht eine Sportsucht?
In der Forschung gibt es Vermutungen, dass die körpereigenen Glückshormone zur Entstehung eines Sportzwangs beitragen. Zwar gibt es bisher keinen Beweis für diesen Zusammenhang, sicher ist jedoch, dass Sport antidepressiv wirken kann. Dies machen sich Betroffene zunutze. Ähnlich wie bei einer Drogensucht brauchen sie mehr und mehr von ihrer Dosis, denn das Bedürfnis, sich durch den Sport besser zu fühlen, ist groß. Die Ursache kann also zum einen das große Verlangen nach den positiven Gefühlen sein, die Sport auslöst und von denen ein Mensch im Normalfall auch profitiert – solange er nicht einem Sportzwang verfällt. Laufsüchtige, die nach der Bewegung süchtig sind, werden in der Wissenschaft als primär Sportsüchtige beschrieben.
An dieser Stelle sei jedoch auch betont, dass vor allem das Laufen in Form von Lauftherapie eine große Hilfe für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen darstellt. Deshalb wird es in vielen Kliniken gezielt eingesetzt. Auch in der Suchttherapie hat die Lauftherapie längst einen festen Platz eingenommen.
Eine Sportsucht entsteht außerdem oft in Kombination mit einer Essstörung oder geht aus dieser hervor. Aufgrund des Zwangs, Gewicht zu verlieren und Kalorien zu verbrennen, wird zu Regulationsmaßnahmen gegriffen – am nächsten liegt dabei neben anderen Maßnahmen wie striktem Fasten, Abführmitteln und Erbrechen vor allem exzessives Sporttreiben. Bei Menschen, die unter einer Essstörung leiden und deshalb auch einen Sportzwang entwickeln, spricht man von einer sekundären Sportsucht.
Primäre versus sekundäre Sportsucht: Die wichtigsten Unterschiede
Der Unterschied zwischen primärer und sekundärer Sportsucht liegt darin, dass Betroffene einer primären Sportsucht in erster Linie süchtig nach der Bewegung sind und nicht in erster Linie Sport treiben, um abzunehmen. Menschen mit Essstörung treiben den Sport in erster Linie, um abzunehmen. Sie sind also weniger der sportlichen Leistung wegen oder wegen des Gefühls, das Sport ihnen gibt, dazu motiviert, sondern durch das Wissen, dass sie durch die Bewegung noch mehr Kalorien verbrennen. In diesem Fall spricht man von einer sekundären Sportsucht.
Es gibt aber auch eine Art Zusammenhang von beidem: im Hochleistungssport. Denn ein gestörtes, ungesundes Essverhalten kommt im Hochleistungssport deutlich häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. Gewichtsreduktion aufgrund des Sports ist im Leistungssport ein großes Thema. Besonders gefährdet sind Leistungssportler und Athletinnen der Sportarten mit starker Gewichtskontrolle wie Turnen, Tanzsport (vor allem Ballett), aber auch Leichtathletik und Ausdauersportarten. Dabei spricht die Sportwissenschaft vom RED-S-Syndrom (RED = Relative Energy Deficiency in Sport, oder auf Deutsch: Relatives Energiedefizit im Sport). Das RED-S-Syndrom tritt nicht nur im Leistungssport auf, es kann auch bei sehr ambitionierten Freizeitsportlern und Läuferinnen vorkommen.
Generell liegen die Ursachen von Essstörungen und Sportzwang oft in dem Gefühl des Kontrollverlusts über das eigene Leben, etwa nach einem einschneidenden oder traumatischen Erlebnis (Trennung der Eltern, Trennung in einer Partnerschaft, Mobbing, Tod eines geliebten Menschen, um nur einige zu nennen). Durch die Kontrolle über ihr Ess- und Sportverhalten haben Betroffene das Gefühl, den empfundenen Kontrollverlust auszugleichen und zumindest in Bezug auf diese beiden Aspekte ihres Lebens die Macht zu haben. Ebenfalls kann eine Sportsucht aus dem Motiv heraus entstehen, dem stressigen Alltag zu entgehen und der Realität zu entfliehen.
Diese Faktoren können, müssen aber nicht der Grund für eine Suchterkrankung sein – jemand mit Veranlagung zur Sucht muss nicht unbedingt etwas offensichtlich Schlimmes erlebt haben. Menschen, die unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden, sind eher dazu veranlagt, in eine Sportsucht zu rutschen – denn durch den Sport haben sie das Gefühl, diesen Wert zu steigern.
Die Folgen einer Sportsucht – mental und körperlich
Sportsüchtige leiden unter mentalen Entzugserscheinungen, immer wenn der Sport nicht ausgeübt werden kann. Diese sind: Gereiztheit und Stimmungsschwankungen sowie Angstzustände, bis hin zur Depression. Aber auch wenn sie den Sport ausüben, können diese psychischen Beeinträchtigungen auftreten. Besonders auffällig sind die Ruhelosigkeit und der Schlafmangel aufgrund der Ruhelosigkeit. Daran erkennst du, dass du vielleicht schon erste Anzeichen einer Laufsucht hast.
Das übertriebene Sportpensum von Süchtigen verursacht körperliche Schädigungen, die oft ignoriert werden. Das können Ermüdungsbrüche, Sehnenentzündungen und Muskelverletzungen sein. Da dem Körper keine Zeit zur Regeneration mehr gegeben wird, kommt es häufig zur Stagnation oder sogar zum Abfall der Leistung. So wie durch eine Essstörung eine Sportsucht entstehen kann, kann die Folge einer Sportsucht auch eine Essstörung sein – etwa wenn Betroffene keinen Sport mehr machen können und versuchen, den „Suchtkick“, den sie sonst beim Sport hatten, durch „Nicht-Essen“ zu ersetzen.
Was kann man gegen eine Sportsucht tun?
Andrea Petruschke leitet in Freiburg die Praxis und Beratungsstelle „Durch dick und dünn“. Durch ihren Beruf als Psychotherapeutin für Essstörungen kommt sie regelmäßig in Kontakt mit Menschen, die von einem Sportzwang betroffen sind. „Im schlimmsten Fall kann ein zum Beispiel laufsüchtiger Mensch nie wieder laufen, um nicht rückfällig zu werden“, sagt sie. Hier gibt es Ähnlichkeit mit anderen Süchten: Ähnliches gilt etwa für Menschen, die alkoholsüchtig oder nikotinsüchtig sind. Sie sollten nie wieder mit ihrem Rauschmittel in Berührung kommen.
Doch Andrea Petruschke betont auch, dass ein gänzlicher Verzicht auf den Sport nicht bei jedem Betroffenen zutreffen muss: „Es gibt Menschen, die ihren Sportzwang überwinden. Aber da muss man ganz genau hinschauen, inwiefern das Suchtzentrum durch den Ausdauersport wieder getriggert wird.“ Es gibt also auch Betroffene, die nach einer erfolgreichen Therapie wieder ganz normal Sport treiben können.
5 häufige Fragen zu Sportsucht
Laut Studienlage sind insgesamt gesehen mehr Männer als Frauen von Sportsucht betroffen. Die Sucht nach dem Sport kommt auffällig oft in den Ausdauersportarten Laufen, Triathlon und Radfahren vor. Männer scheinen hier stärker leistungs- und wettkampforientiert zu sein, was die Gefahr einer Abhängigkeit erhöht. Bei Frauen kommt es öfter zu einer sekundären Sportsucht, die im Zusammenhang mit Essstörungen oder dem Wunsch nach Körperkontrolle auftritt.
Sportsucht betrifft vor allem junge Athletinnen und Sportler. Im Alter zwischen 13 und 25 Jahren tritt sie am häufigsten auf.
Eine große! Denn Social Media ist das Medium der jungen Leute. Und dabei spielt Perfektion eine große Rolle: Unnatürliche Gesichter und Körper, die stark mit Filtern überarbeitet worden sind, werden dargestellt. Leistungsdruck, ein ständiges Sich-Vergleichen mit „Internet-Idolen“ und die andauernde Selbstinszenierung sind Verstärker für die Sportsucht. Besonders junge Menschen sind gefährdet, weil Likes und Follower als Bestätigung für ihre extremen und ungesunden Trainingsmuster dienen. Bei Kindern und Jugendlichen sollten Eltern unbedingt das Handy- und Bildschirmverhalten kontrollieren. Das gehört heutzutage zur erzieherischen Sorgfaltspflicht dazu, vielleicht ist es sogar die wichtigste.
Wenn du beobachtest, dass deine Freundin oder dein Freund sportsüchtig ist, sei behutsam und sensibel. Sprich deine Beobachtung offen und ehrlich an, aber ohne Vorwürfe. Hör gut zu, was die betroffene Person zu erzählen hat. Versuche, sie zu anderen Unternehmungen, die nichts mit Sport zu tun haben, zu motivieren. Damit kannst du helfen. Professionelle Hilfe ist aber am wichtigsten. Versuche, deinen Freund oder deine Freundin zu einer psychologischen Therapie zu motivieren.
Natürlich, das haben schon viele geschafft. Oft ist Sucht ein Verhaltensmuster. Jemand, der zur Sucht neigt, wird höchstwahrscheinlich einmal in seinem Leben süchtig. Die Sucht ist eher zweitrangig. Deshalb tauschen auch manche ihre Süchte, zum Beispiel von der Drogen- zur Sportsucht. Suchttherapie setzt deswegen sehr tief bei der Persönlichkeit des Süchtigen an. Oft steckt mangelndes Selbstwertgefühl hinter Suchtverhalten, das früh in der Kindheit und Familie geprägt wurde.
Sportsucht überwinden: Tipps, Hilfe, Therapie
Eine Therapie kann helfen, neue Verhaltensmuster gegenüber dem Sport zu etablieren. Sport wird dann von den Betroffenen jenseits von Leistung mit einer neuen Motivation verknüpft. Dabei werden neue Synapsen im Gehirn gebildet, das funktioniert wie eine Decodierung. Diese Umbildungen, so Psychotherapeutin Andrea Petruschke, schaffen im Nervensystem einen neuen Anker. Betroffene lernen, auf andere Dinge zu achten und andere Aspekte beim Sporttreiben wertzuschätzen.
„Das schafft man zum Beispiel über die Sinneswahrnehmung. Wie gut riecht die Herbstluft, wenn ich durch den Wald jogge? Wie ist es, wenn ich meine Atmung spüre?“, erklärt die Expertin. Betroffene können so ein neues Wohlgefühl schaffen, das den „Suchtkick“ ersetzt.
Wer einmal süchtig war, kann lernen, den Sport als etwas Positives, nicht aber etwas Zwanghaftes zu sehen. So gibt es etwa Menschen, die so gut wie täglich aus Leidenschaft laufen, trotzdem aber nicht süchtig danach sind. Sie sehen das Laufen nicht als Zwang, sondern als etwas, das ihnen auf gesundem Weg zu mehr Lebensfreude verhilft.
So schreibt Heather L. Reid in ihrem Aufsatz „Die Freiheit des Langstreckenläufers“ (erschienen in „Die Philosophie des Laufens“, Hrsg. M.W. Austin, P. Reichenbach): „Diejenigen, die die Freiheit und die spielerischen Aspekte des Laufens entdecken, können lernen, dieses Erlebnis zu bewahren und zu würdigen. Das Gefühl der Freiheit ist eines der größten Geschenke, die einem das Laufen geben kann“. Genau diese Freiheit und spielerischen Aspekte sieht ein sportsüchtiger Mensch nicht mehr. Wer es schafft, gesund zu werden, entdeckt durch den Sport mit etwas Glück die „Oase der Freiheit“, wie Heather L. Reid es schreibt.
Das Problem mit einer Essstörung oder einem Sportzwang ist, dass sowohl Essen als auch Bewegung essenziell sind. Darauf zu verzichten, wie es im Fall einer Drogensucht gehandhabt wird, ist nicht möglich. Um Rückfälle zu vermeiden, müssen Betroffene einen Neuzusammenhang herstellen und lernen, Essen und Bewegung in gesundem Maß in den Alltag zu integrieren.
Auch Bücher können helfen, die Sportsucht besser zu verstehen und Methoden zu entwickeln, sie abzuschwächen. Erfahrungsberichte von Betroffenen können Mut machen auf dem Weg, einen besseren Umgang mit sich und dem eigenen Körper zu finden. In ihrem Buch „Bis es weh tut“ etwa schreibt Autorin und Bloggerin Yavi Hameister über ihre persönliche Geschichte, die Auslöser und ihren Weg aus der Essstörung und Sportsucht.
In dem Buch „Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten“ geht es um interdisziplinäre Ansätze von der Prävention bis zur Therapie und man erhält einen Überblick über den aktuellen Stand zum Thema Sportsucht.
Leider gibt es bis jetzt keine ausgereiften Therapiemöglichkeiten, bei denen es primär um Sportsucht geht. Behandelt wird Sportsucht in erster Linie in Zusammenhang mit Essstörungen. Dies wird so bleiben, solange die Sportsucht keine offiziell anerkannte Krankheit ist und es dazu auch keine aussagekräftigen Langzeitstudien gibt.





