Manchmal bringt ein Schritt zurück mehr voran, als man denkt. Rückwärtslaufen, auch Retrorunning genannt, fordert deinen Körper und dein Gehirn auf besondere Art und Weise. Kein Wunder also, dass immer mehr Sportlerinnen und Sportler die ungewöhnliche Technik für sich entdecken.
Was ist Retrorunning – und warum ist es im Laufsport plötzlich Thema?
Egal ob man es Retrorunning, Reverse Running, Backward Running oder einfach Rückwärtslaufen nennt, es ist genau das, wonach es klingt: Man läuft nicht vorwärts, sondern dreht die Laufrichtung einfach um.
Als Aufwärmübung oder Teil eines Lauf-ABC hat man das Rückwärtslaufen schon oft gesehen. Doch längst wird die ungewöhnliche Fortbewegungsart nicht mehr nur als Übung zum Aufwärmen genutzt. So lief der mehrfache Weltmeister und Weltrekordhalter über 100 Kilometer Rückwärtslaufen, Markus Jürgens, die 42,195 Kilometer in 3:38:27 Stunden und die 100 Kilometer in 12:20 Stunden. Der Münsteraner ist überzeugt von den positiven Effekten des Rückwärtslaufens. Sowohl Leistungs- als auch Hobbysportler sollen von dieser Wirkung profitieren.
Eine Auswertung der britischen Fitnesskette PureGym zeigte schon vor einigen Jahren: Rückwärtslaufen gehörte 2022 zu den am stärksten wachsenden Fitnesstrends. Obwohl Rückwärtslaufen streng genommen kein neuer Trend ist, hat es in den vergangenen Jahren doch deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen.
Welche Muskeln und Fähigkeiten werden beim Rückwärtslaufen trainiert?
Dr. Thomas Schneider, Leiter des Zentrums für Bewegungs- und Ganganalyse an der Gelenk-Klinik Gundelfing, erklärte im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news, dass das Rückwärtslaufen und vor allem das Rückwärtsgehen als effektives Muskeltraining genutzt werden könne: „Generell ist diese Gehvariante empfehlenswert, um Rücken- und Beinmuskulatur zu stärken.“ Besonders der Quadrizepsmuskel im Oberschenkel und die Wadenmuskulatur werden dabei trainiert. Durch das Rückwärtsgehen, so der Experte, ändere sich auch die gewohnte, immer gleiche Belastung des Körpers, was die Koordination und das Zusammenspiel der Muskeln verbessere.
Aber nicht nur die Muskulatur, auch die Körperhaltung kann durch das Rückwärtsgehen verbessert werden. Laut Schneider erfordere das Rückwärtsgehen eine aufrechtere Körperhaltung, zudem werde das eigene Körpergefühl verbessert. Um diesen Vorteil nutzen zu können, sollte man allerdings in einer sicheren Umgebung trainieren, in der man rückwärtsgehen kann, ohne sich ständig umdrehen zu müssen und dadurch den Kopf zu verdrehen.
Wie gesund ist Rückwärtslaufen für Knie, Rücken und Gelenke?
Beim Rückwärtslaufen sind die Schritte deutlich kleiner als beim Vorwärtslaufen. Das schont die Gelenke und kann sogar gegen Knieschmerzen helfen. Statt wie beim Vorwärtslaufen mit der Ferse aufzusetzen, landet man beim Rückwärtslaufen meist automatisch auf dem Vor- bzw. Mittelfuß. Dadurch entsteht ein deutlich sanfterer Bewegungsablauf, der die Stoßbelastung reduziert und damit auch das Kniegelenk spürbar schont. Gleichzeitig werden die Waden- und hintere Oberschenkelmuskulatur trainiert und die Kniestabilität verbessert.
Laut Dr. Thomas Schneider verbessere sich durch das Rückwärtsgehen auch die Dehnfähigkeit des Hüftbeugers, was Schmerzen im unteren Rücken reduzieren könne. Weiterhin würden die Fersen beim Rückwärtsgehen deutlich weniger belastet. „Wir haben Patienten, die gerade bei Fersenschmerzen oder Fersensporn von dem Rückwärtsgang profitieren“, so der Experte.
Eine weitere positive Wirkung des Rückwärtsgehens ist die Verbesserung der Körperstabilität. Beim Vorwärtslaufen fällt der Körper sozusagen in die Bewegung rein, wenn du jedoch verkehrtherum läufst, dann müssen die Muskeln stärker arbeiten. Der Rumpf wird also deutlich besser trainiert.
Verbrennt man beim Rückwärtslaufen mehr Kalorien?
Beim Rückwärtslaufen verbraucht der Mensch mehr Kalorien als beim Vorwärtslaufen. Durch die Rückwärtsbewegung kann der Fuß nicht wie gewohnt abrollen, stattdessen muss der Körper sein eigenes Gewicht länger halten. Das kostet mehr Kraft und verbraucht dementsprechend mehr Kalorien. Um beim Rückwärtslaufen mehr Kalorien zu verbrennen als beim normalen Laufen, muss man aber auch gleich schnell laufen. Wenn du also kein Profi im Rückwärtslaufen bist, kannst du nur sehr begrenzt von dem erhöhten Kalorienverbrauch profitieren. Auch wenn beim Rückwärtslaufen mehr Muskeln als beim Vorwärtslaufen beansprucht werden und der Kalorienverbrauch dadurch höher ist, sollte diese Trainingsmethode nicht deine erste Wahl sein, wenn du abnehmen möchtest. Eine bessere Wirkung erzielst du mit einer Mischung aus Lauf- und Krafttraining.
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Rückwärtslaufen fürs Gehirn: Gleichgewicht, Fokus und Gedächtnis
Retrorunning fordert nicht nur die Muskulatur, sondern ist auch ein perfektes Gehirntraining, denn es fordert das Gehirn auf eine Weise heraus, die beim normalen Vorwärtslaufen nicht erreicht wird. Die ungewohnte Bewegung wirkt wie ein kognitives Training, das wichtige Hirnregionen aktiviert und zu Verbesserungen der geistigen Fitness führen kann. Wenn du rückwärtsläufst, verwirrst du dein Gehirn. Die gewohnten Informationen von den Augen (visuell) und dem Gleichgewichtsorgan im Ohr (vestibulär) passen plötzlich nicht mehr zu dem, was du tust. Deshalb muss dein Gehirn die Bewegung neu erlernen und sich dabei stärker auf dein Körpergefühl verlassen, die Propriozeption. Das ist die Fähigkeit, zu spüren, wo sich deine Füße und Beine im Raum befinden, ohne hinzusehen.
Um das zu schaffen, muss dein vorderer Stirnbereich, zuständig für das Denken, Planen und Entscheiden, auf Hochtouren arbeiten. Er muss jeden einzelnen Schritt bewusst steuern, um Stolpern und Stürze zu verhindern. Das trainiert auch den Gleichgewichtssinn, was besonders wertvoll für die Sturzprophylaxe ist. Beim Rückwärtslaufen verlagert sich außerdem der Körperschwerpunkt und es erfordert gleichzeitig mehr Stabilität, das Gleichgewicht zu halten. Auch dadurch wird das Gleichgewicht trainiert.
Gleichzeitig erfordert Rückwärtslaufen eine erhöhte Aufmerksamkeit, da Unaufmerksamkeit schnell zu einem Sturz führen kann. Du musst dich aktiv über die Schultern orientieren und die akustischen Reize und auch die Bodenbeschaffenheit intensiver wahrnehmen. Dadurch wird die Konzentration gefördert.
Dass Rückwärtslaufen ein gutes Gedächtnistraining ist, zeigt auch eine Studie der Universität Roehampton in London. Die Teilnehmenden wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, denen ein identisches Video vorgespielt wurde. Die Gruppe, die anschließend rückwärtslaufen musste oder sich vorstellte, rückwärtszulaufen, konnte sich besser an den Inhalt des Videos erinnern, als die Gruppe, die vorwärtslief.
So startest du sicher mit dem Rückwärtslaufen
Dr. Thomas Schneider rät, es mit dem Rückwärtslaufen nicht zu übertreiben und diese Bewegungsform nur als Trainingsergänzung zu sehen. Das häufige Umdrehen könne dem Nacken schaden, zudem sei die Unfallgefahr beim Rückwärtslaufen deutlich erhöht. Die folgenden Tipps können die Risiken verringern und dir bei deinem Einstieg helfen:
Sicherheit
Die größte Gefahr sind Hindernisse. Wähle eine ebene, hindernisfreie Strecke wie eine leere Tartanbahn oder einen gut bekannten, freien Parkweg. Vermeide unübersichtliche Waldwege oder Wurzeln. Drehe auch den Kopf hin und wieder, aber kurz, abwechselnd über die Schultern, um Hindernisse frühzeitig zu erkennen und die Haltung nicht zu verspannen.
Warm-up
Um dich aufzuwärmen, solltest du erst rückwärts gehen, also mit Retrowalking beginnen und dann laufen. Das aktiviert deine Gleichgewichtssinne und die ungewohnten Muskelgruppen sanft, bevor du mit dem eigentlichen Retrorunning startest.
Langsam steigern
Halte die Distanz am Anfang kurz. Integriere nur kurze Passagen von ca. 100 bis 200 Metern Retrorunning in dein normales Lauftraining. Steigere Dauer und Tempo erst, wenn du dich wirklich sicher fühlst.
Technik
Achte auf eine aufrechte Körperhaltung. Wenn du deinen Körper zu weit nach vorn oder hinten beugst, kannst du schnell das Gleichgewicht verlieren.
Arme verwenden
Benutze deine Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Diese sollten wie beim Vorwärtslaufen angewinkelt sein und im Rhythmus der Beine mitschwingen.
Wie du Retrorunning sinnvoll in dein Training integrierst
Retrorunning ist eine effektive Ergänzung zu deinem regulären Lauftraining, aber es ist kein Ersatz. Um die Vorteile optimal zu nutzen, baue das Rückwärtslaufen folgendermaßen in dein Training ein:
1. Rückwärtslaufen als Warm-up
Du kannst das Rückwärtslaufen sinnvoll in dein Training integrieren, wenn du es zum Beispiel als Teil deines Aufwärmprogramms oder Cool-downs nutzt. Absolviere dafür 5 bis 10 Minuten Retrowalking oder leichtes Retrorunning vor deiner Haupttrainingseinheit. Das aktiviert die sonst weniger beanspruchte Muskulatur und bereitet die Gelenke optimal auf die kommende Belastung vor. Fortgeschrittene können einzelne Lauf-ABC-Übungen (z.B. Kniehebelauf) rückwärts absolvieren. Zum Abschluss schließe deine Trainingseinheit mit einigen Minuten lockerem Retrowalking ab, um die beanspruchte Muskulatur anders zu belasten.
2. Rückwärts-Intervalle
Du kannst Retrorunning auch in Form von Intervallen in dein normales Training einbauen. Wechsle dabei ab: Laufe beispielsweise 5 Minuten vorwärts und dann 1 bis 2 Minuten rückwärts. Wiederhole diesen Zyklus mehrmals. Ein mögliches Intervall-Training könnte so aussehen: 10 Minuten Warm-up (inklusive Retrowalking), gefolgt von dreimal 5 Minuten Vorwärtslaufen und 2 Minuten Retrorunning, abgeschlossen von 5 Minuten Cooldown (inklusive Retrowalking). Achte bei den Retrorunning-Passagen auf eine aufrechte Haltung und ein aktives Abdrücken über den Fußballen.
Auch wenn diese Variante deutlich ungewöhnlicher ist als ein klassisches Intervalltraining, kannst du sie bedenkenlos ausprobieren – solange du aufmerksam bleibst und dich an eine sichere Umgebung hältst. Für Abwechslung in deinem Laufalltag sorgt sie allemal.
Für wen ist Rückwärtslaufen nicht geeignet?
So vielseitig die Vorteile des Rückwärtslaufens sind, es gibt auch Einschränkungen und Nachteile. Menschen mit akuten Knie- oder Rückenverletzungen sollten vorsichtig sein, denn die ungewohnte Bewegungsrichtung verändert die Belastung im gesamten Bewegungsapparat. Auch wer Probleme mit Gleichgewicht, Orientierung oder Schwindel hat, ist beim Rückwärtslaufen einem gefährlichen Sturzrisiko ausgesetzt. Für absolute Laufeinsteiger eignet sich die Technik ebenfalls nur bedingt, daher solltest du zuvor erst eine stabile Grundlage im Vorwärtslaufen aufbauen, bevor du komplexere Bewegungsabläufe ausprobierst. Und auch unabhängig vom Fitnesslevel gilt: In unübersichtlichem Gelände oder auf stark frequentierten Wegen ist Rückwärtslaufen zu gefährlich und deshalb tabu.





