Weltrekordlerin Brigid Kosgei
Die neue Königin

Brigid Kosgei stellte im Oktober 2019 mit 2:14:04 Stunden einen sensationellen Marathon-Weltrekord auf. Die Kenianerin gewährte uns einen exklusiven Einblick in ihren Alltag im Trainingscamp in Kapsait.
Marathon-Weltrekordlerin Brigid Kosgei
Foto: Norbert Wilhelmi

Es ist vier Uhr früh, als ich mich ins Auto setze und von Eldoret nach Iten fahre, wo Fotograf Norbert Wilhelmi auf mich wartet. Für einen schnellen Kaffee hat’s gerade noch gereicht, zu mehr nicht. Wir müssen pünktlich sein. Kenianer sind zwar nicht dafür bekannt, dass sie ein ausgeprägtes Zeit­gefühl haben. Hakuna matata sagt man auf Swahili: Wird schon, alles gut. Doch wenn’s ums Training geht, gilt die „Mzungu time“, die Zeit der Weißen. Vor sieben Uhr sollten wir in Kapsait sein, hatte mir Erick Kimaiyo, der Coach, der das Camp von Rosa Associati und die angegliederte Schule leitet, gesagt, denn dann beginne an diesem Mittwoch das Morgentraining.

Frauen-Lauf-Special

Langsam verfärbt sich der Horizont rötlich-gelb, und wenig später blinzeln die ersten Sonnenstrahlen hinter den Hügeln der Cherangany Hills hervor. So dicht am Äquator geht die Sonne das ganze Jahr über um 6:30 Uhr auf und zwölf Stunden später wieder unter. Die Landschaft wirkt wie angemalt in einem tiefen Grün – ein Zeichen, dass es in den letzten Wochen ungewöhnlich viel geregnet hat. Als wir am Eingang zum Camp ankommen, wirkt dieses auf den ersten Blick heruntergekommen. An den roten Backsteinhäusern nagt der Zahn der Zeit, die Aufschrift „Kapsait Nike Athletics Training Camp“ ist halb abgeblättert.

Gebäude im Kapsait Nike Athletics Training Camp
Norbert Wilhelmi
Das Trainingscamp der Weltrekordlerin ist renovierungsbedürftig, am Eingang blättert der Putz von der Wand.

Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 2004, als Dottore Gabriele Rosa, ein Arzt aus Italien, das Trainingslager mit viel Tamtam eröffnete. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Zwischen 2010 und 2015 war das Camp sogar geschlossen, weil Rosa auf den jungen italienischen Landsmann Claudio Berardelli als Trainer setzte, der in Kapsabet und Kaptagat Leute wie Janeth Jepkosgei, Nancy Lagat, Eunice Sum, Martin Lel, Samuel Wanjiru und Rita Jeptoo auf Distanzen zwischen 800 Meter und Marathon in die Weltspitze führte.

Brigid Kosgei im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Seit 2004 gibt es das Trainingscamp des Italieners Gabriele Rosa in Kenia. Brigid Kosgei und Coach Kimaiyo sind stolz dazuzugehören.

Erick Kimaiyo lebte in dieser Zeit bei seiner Familie in Kapsowar und widmete sich seiner kleinen Farm. Einige seiner sechs Kinder waren bereits im Ausland – in den USA oder in Australien. Als Coach war er arbeitslos. Als Berardelli nach Dopinganschuldigungen im Zusammenhang mit Rita Jeptoo als Trainer nicht mehr zu halten war, holte der „Dottore“ Kimaiyo zurück. Kurz darauf begann die Erfolgsstory der Brigid Kosgei.

Und so kommt es für mich zum ersten Wiedersehen mit Erick Kimaiyo seit etwa 15 Jahren. Die Begrüßung ist herzlich. Kimaiyo ist inzwischen 50 Jahre alt und immer noch fit. Er war einst ein sehr guter Marathonläufer. Mit 2:07:43 Stunden als Zweiter in Berlin lag er 1997 auf Platz vier der Jahresbestenliste, weniger als eine Minute vom Weltrekord entfernt. Er gewann den Honolulu-Marathon und war 1995 Zweiter in Tokio. Dort lernte er Gabriele Rosa kennen. Der Italiener, der den Kenianern das Marathonlaufen beibrachte, nahm ihn unter Vertrag.

„Wer erwischt wird, sollte lebenslang gesperrt werden.“

Die ersten Jahre wurde in Kaptagat trainiert, dort, wo heute Marathon-Weltrekordler Eliud Kipchoge seine Basis hat, dann in Kapsait. Die Athleten lebten in einem gemieteten Haus, bevor sich Rosa dazu entschloss, das Trainingscamp zu bauen. Trotz der Zeit, während der er beruflich im Abseits stand, sagt Kimaiyo heute über Rosa: „Er hat ein gutes Herz. Es ging ihm nie um seine Person. Er hatte nur ein Ziel: Er wollte den Athleten zu einem besseren Leben verhelfen. All die Dopingfälle hatten nichts mit ihm zu tun. Das waren Leute aus der Umgebung der Athleten: Ehemänner, Verwandte, Freunde. Das Hauptproblem: Diese Athleten wollen nicht wirklich hart trainieren, sie suchen nach Abkürzungen. Ich denke, wer erwischt wird, sollte lebenslang gesperrt werden.“

Brigid Kosgei im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Start des Haupttrainings ist in der Regel morgens um sieben – und es wird pünktlich gestartet!

Was hartes Training in Kapsait bedeutet, werde ich in den nächsten Stunden erfahren. Es ist sieben Uhr, die Athleten versam­meln sich am Ausgang des Camps, darunter auch Kosgei. Wie alle anderen zwängt sie sich in einen Kleintransporter. Ich traue meinen Augen nicht: Ein einziges Fahrzeug transportiert die Athleten zum Training. Ich zähle: Es sind 42 Läuferinnen und Läufer, irgendwo eingeklemmt die Weltrekordhalterin.

Brigid Kosgei im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Transport zum Trainingsstart: 42 Läufer auf einem Pick-up – und irgendwo mittendrin die Weltrekordlerin.

Schwere Steine als Hanteln

Später sagt Kimaiyo: „Ich wünschte, das Management würde mehr Geld für uns ausgeben, der Pick-up ist mehr als 20 Jahre alt und das einzige Fahrzeug, das uns zur Verfügung steht. Die Unterkünfte für die Athleten, die Küche und der Aufenthaltsraum benötigen dringend eine Auffrischung.“ Und es gibt im Camp auch keinen Kraftraum. Übungen mit dem eigenen Körpergewicht, Liegestütze, Knie- und Rumpfbeugen, dazu schwere Steine, die als Hanteln dienen – das ist das Krafttraining der schnellsten Marathonläuferin der Welt. Erst seit dem Weltrekord gibt es einen Physiotherapeuten.

Trainingscamp in Kapsait, Kenia
Norbert Wilhelmi
Waschen und putzen müssen die Weltklasseathletenim Camp selbst.

Das Erfolgsrezept? Die Topografie.

Liegt in der spartanischen Ausstattung etwa ein Erfolgsrezept? Nein, das wichtigste Element ist die Topografie. An diesem Morgen stehen 21 Kilometer auf dem Programm. 21 Kilometer auf 3.000 Metern über dem Meer, und das in einem Gelände, in dem es permanent auf und ab geht. Hier wird die Beinmuskulatur bei jedem Schritt gefordert, dazu die Lunge und das Herz. Ich kenne alle Trainingsgebiete in Kenia sehr gut: Iten, Kaptagat, Kapsabet. Keines ist mit Kapsait vergleichbar, auch im Hinblick auf die Höhe: bis zu 3.500 Meter hoch sind die Cherangany Hills.

Brigid Kosgei mit ihrer Trainingsgruppe im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Das Trainingsterrain auf über 3.000 Meter Höhe ist ausnahmslos profiliert: Es geht permanent auf und ab.

Etwa 15 Minuten dauert die Fahrt zum Trainingsstart. Der Landcruiser kommt vor Überlastung an den Anstiegen fast zum Stehen, aber immerhin: Keiner der 42 Läufer geht unterwegs verloren. Jetzt entledigt sich die Gruppe der Trainingsanzüge, einige verschwinden noch schnell in den Büschen, und dann erklärt der Chef, was Sache ist: „Ihr lauft Mitteltempo, kein Rennen! Passt die Geschwindigkeit den individuellen Fähigkeiten und Zielsetzungen an.“

Brigid Kosgei, weitere Athleten und Coach Erick Kimaiyo im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Coach Erick Kimaiyo gibt klare An­weisungen, was im Training zu tun ist.

Nichts außer Training

Die Gruppe legt los. Kosgei, die nach einem schnellen Halbmarathon noch in der Regenerationsphase ist und zudem über Schmerzen im Hüft- und Oberschenkelbereich klagt, läuft zusammen mit Geoffrey Kipsang, ihrem Tempomacher vom Weltrekord in Chicago, ganz hinten. Die Gruppe läuft eine große Runde. Währenddessen unterhalte ich mich mit Erick Kimaiyo. „Unser großer Vorteil“, erklärt er, „ist der, dass keine größere Stadt in der Nähe ist. Die Athleten konzentrieren sich daher rund um die Uhr aufs Training. Niemand darf das Camp ohne meine Erlaubnis verlassen.

Kapsait Trainingscamp in Kenia
Norbert Wilhelmi
Morgentoilette im Freien. Männer und Frauen sind im Camp streng getrennt.

Iten, Kaptagat oder Kapsabet sind keine 40 Minuten von Eldoret entfernt. Viele gehen dort nach dem Training in die Stadt und ihren Geschäften nach, anstatt sich auszuruhen. Ich habe auch ein paar verheiratete Athleten hier, aber selbst die dürfen im Camp nicht zusammenwohnen, es gibt einen Männer- und einen Frauenblock.“ Punkt fünf der Camp-Regeln, die an einem der Häuser neben dem groben Trainingsplan angebracht sind, lässt keine Zweifel aufkommen: „Liebesbeziehungen innerhalb des Camps sind nicht erlaubt.“

Norbert Wilhelmi

Kosgeis mentale Stärke ist ihr Plus

Man merkt’s: Kimaiyo war jahrelang beim Militär. Eliud Kipchoge läuft 200 bis 225 Trainingskilometer pro Woche, Brigid Kosgei kommt auf 230 bis 240. Es können auch mal 250 sein. Erick Kimaiyo führt aus: „In den letzten drei Wochen vor einem Rennen nehmen wir die Gesamtbelastung natürlich deutlich zurück. Ganz wichtig ist, dass man immer auf das Befinden des Athleten Rücksicht nimmt. Der größte Fehler, den man machen kann, wäre, das Training durchzuziehen, auch wenn man müde ist. Brigids großes Plus“, sagt Kimaiyo und strahlt: „Sie ist mental sehr stark. Sie lässt sich selbst von den muskulären Problemen, von denen sie seit Längerem geplagt wird, nicht aus dem Konzept bringen. Den Weltrekord in Chicago, wie auch schon ihren Sieg in London, lief sie mit Schmerzmitteln.“

Brigid Kosgei im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Brigid Kosgei bildet meist den Schluss der überwiegend männlichen Trainingsgruppe, bekommt aber ­immer Begleiter zur Seite gestellt.

Das mag ja sein, aber wie lässt sich erklären, dass eine Läuferin ihre eigene Bestzeit um mehr als vier Minuten verbessert und damit Paula Rad­cliffes Weltrekord aus dem Jahr 2003 um satte 81 Sekunden auf schier unglaubliche 2:14:04 Stunden steigert? Kimaiyo überlegt nicht lange: „Vergiss nicht, dass Brigid erst seit vier Jahren wirklich intensiv trainiert. Entscheidend war der London-Marathon im letzten Frühjahr. Bevor sie nach Großbritannien reiste, sagte sie: ,Ach, Trainer, ich glaube nicht, dass ich gegen Vivian Cheruiyot und Mary Keitany eine Chance habe.‘ Aber dann gewann sie mit fast zwei Minuten Vorsprung.

„Wenn Brigid gesund bleibt, kann sie in den nächsten zwei, drei Jahren sogar 2:12 oder 2:13 laufen“

Danach rückte der Weltrekord in unser Blickfeld. Schon vor dem Rennen in Chicago wusste ich, dass sie bereit dafür war. Das sah man an der Entschlossenheit, mit der sie im Training die schnellen Einheiten, aber auch die Long Runs gelaufen war. Ich behaupte: Wenn Brigid gesund bleibt, kann sie in den nächsten zwei, drei Jahren sogar 2:12 oder 2:13 laufen – und den Halbmarathon in 63 Minuten.“

Brigid Kosgei im Trainingscamp in Kapsait
Norbert Wilhelmi
Ein Erfolgsrezept von Brigid Kosgei: Sie findet im Training eine ausgewogene Mischung aus totaler Verausgabung und hinreichender Erholung.

Inzwischen ist das Training zu Ende. Es geht zurück zum Camp. Zum Frühstück gibt’s Tee und Chapati, das Fladenbrot, das in der Kolonialzeit von indischen Wanderarbeitern nach Ostafrika gebracht wurde. Wird sich jetzt endlich Zeit für ein Interview mit Brigid Kosgei finden, und wo können wir es machen? „Lasst uns zu mir nach Hause fahren“, sagt sie, „da lernt ihr auch meinen Mann kennen.“ Kosgei hat ihre Wurzeln nicht vergessen. Sie wuchs mit sechs Geschwistern und ihrer Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf. Im Januar 2012, ein Jahr vor dem Abschluss, musste sie die Schule verlassen, weil die Mutter das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte. Und so begann sie mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann Mathew Mitei, systematisch zu trainieren. Ein Jahr darauf brachte sie Zwillinge zur Welt, wodurch sich ihr Aufstieg in die Weltspitze aber lediglich verzögerte. Mathew sorgt heute sowohl für die Kinder als auch für das Haus.

Brigid Kosgei im heimischen Wohnzimmer
Norbert Wilhelmi
Brigid Kosgei mit Ehemann Mathew (im blauen Hemd), ihrem Pacemaker Geoffrey Kipsang und Autor Jürg Wirz im heimischen Wohnzimmer.

Brigid Kosgei und ihre Familie leben nur ein paar Kilometer vom Trainingscamp Kapsait entfernt. Im großen Wohnraum erinnert kaum etwas an die schnellste Marathonläuferin der Welt. An den mit dünnem Vorhangstoff und Girlanden verzierten Wänden hängen Bilder von Jesus am Kreuz und vom letzten Abendmahl. Brigid Kosgei ist auch Ehefrau und Mutter. Die Rolle als Mutter sei allerdings nicht immer einfach: „Wenn ich an einem Wochenende nach Hause komme, wollen mich die Kinder nicht mehr gehen lassen. Aber langsam begreifen sie, dass ihre Mutter von Beruf Läuferin ist.“

Kosgei erzählt, dass sie ihrer Mutter ein schönes Haus gebaut habe und dass sie überzeugt sei, im Training sowohl den Umfang als auch das Lauftempo noch weiter steigern zu können. Worüber sie aber nicht gern spricht, sind die Schuhe. Erst unmittelbar vor dem Rennen in Chicago hatte sie beschlossen, im neuesten Nike-Modell zu laufen, das sie zuvor nur einmal kurz ausprobiert hatte. „Wegen der dicken Sohle kam es mir vor, wie auf einer Matratze zu laufen. Mein Manager musste mich dazu überreden, den Schuh zu verwenden. Ich habe gehört, dass viele und auch Paula Radcliffe den Rekord in erster Linie den Schuhen zuschreiben. Das finde ich schade. Die Kritiker sollten mal nach Kapsait kommen und sich unser Training ansehen.“

Doch das Lächeln kehrt schnell auf ihr Gesicht zurück, sie serviert uns Tee und Obst, posiert noch einmal für Fotos, Telefonnummern werden ausgetauscht.

Auf der Rückfahrt verdunkelt sich der Himmel. Abertausende von Heuschrecken sind in der Luft, der Boden ist übersät von den gelblich-grünen, bis zu zehn Zentimeter großen Insekten, die binnen Minuten ganze Felder kahlfressen. Ein unheimliches Bild. Der kenianische Fahrer sagt: „Das ist die Strafe Gottes für unseren Ungehorsam“, und erzählt von den zehn Plagen, mit denen Gott die Ägypter bestrafte, weil sie die Israeliten nicht ziehen ließen. In den Augen vieler Kenianer ist alles gottgewollt, übrigens auch ein Weltrekord.

Steckbrief Brigid Kosgei

Geboren: 20. Februar 1994 in Sinon/Kapsowar (Kenia)

Privat: verheiratet mit Mathew Mitei, Mutter von Zwillingen (Faith und Brian, geboren 2013)

Persönliche Bestleistungen

  • 5 Kilometer: 15:13 Min. (2019)
  • 10 Kilometer: 29:54 Min. (2018)
  • Halbmarathon: 64:28 Min. (2019)
  • Marathon: 2:14:04 Stunden (2019, Weltrekord)

Entwicklung im Marathon

  • 2015: 1. Porto 2:47:59 Stunden
  • 2016: 1. Mailand 2:27:45, 2. Lissabon 2:24:45, 1. Honolulu 2:31:11
  • 2017: 8. Boston 2:31:48, 2. Chicago 2:20:22, 1. Honolulu 2:22:15
  • 2018: 2. London 2:20:13, 1. Chicago 2:18:35
  • 2019: 1. London 2:18:20 und 1. Chicago 2:14:04 Stunden
  • 2020: 1. London 2:18:58