Vieles war neu bei dem Rekordlauf über die Marathonstrecke in 1:59:40 Stunden: Der Kenianer Eliud Kipchoge raste über die Wiener Praterallee mit einem Schuh, der zuvor noch nie in der Öffentlichkeit präsentiert wurde und über den nichts bekannt war. Unsere amerikanischen RUNNER’S WORLD-Kollegen haben recherchiert – und sind beim US-Patentamt auf interessante Informationen gestoßen.
Bereits im Frühjahr hatte Eliud Kipchoges neuer Schuh, den er beim London-Marathon trug, in der Fachwelt für Aufsehen gesorgt: Der Nike Vaporfly Next%, eine Weiterentwicklung des Nike Vaporfly 4% - also der Schuh, der bereits für den Sub-2-h-Versuch in Monza entwickelt wurde und seither großes Interesse bei ambitionierten Hobby-Marathonläufern findet.
Kipchoge lief mit einem Prototyp
Der Nike Vaporfly Next% soll die Laufleistung beim Marathon um mehr als vier Prozent verbessern. Der Schuh ist an seiner auffälligen Optik zu erkennen. Hervorstechendes Merkmal ist der V-förmig aerodynamisch-optimierte Abschluss der Mittelsohle an der Ferse. Aber in Wien trug Kipchoge jetzt einen anderen Schuh – offenbar eine abgewandelte Version des Vaporfly Next%: Ein Prototyp, der eine Ausbuchtung unter dem Vorfuß aufweist, die wie eine Art Airbag aussieht.
Eine Erklärung für die Konstruktion könnte ein Patent sein, was beim US-amerikanischen Patentamt von Nike 2018 eingereicht wurde. Die Patentzeichnung wurde kürzlich von der Webseite Believe in the run entdeckt, und sie zeigt eine Dämpfungskissen-Konstruktion mit verschiedenen Elementen. Es gibt eine segmentierte Außensohle, drei Platten (vermutlich aus Karbonfaser) und bis zu vier mit Flüssigkeit gefüllte Kammern.
Kipchoges Leistungen stehen außer Diskussion; er ist in seinen letzten zehn Marathons ungeschlagen geblieben, darunter waren auch sein Olympiasieg in Rio (2016) und sein Weltrekord in Berlin (2018). Welchen Anteil hatten aber nun sein neuer Schuh in Wien, hat er den Unterschied ausgemacht?

Interessant sind auf jeden Fall die neuen Kammern im Vorfußbereich, die als durchsichtige Kissen von außen erkennbar sind. Sie sind aus TPU und werden von Strängen durchzogen, die Nike „tensile strands“ nennt. Wenn die Flüssigkeit, die in den Kammern ist, mit einem Druck von 15 bis 30 psi zusammengepresst wird, werden die Stränge unter Zug gesetzt und bekommen, laut Nikes Patentschrift, die Form der Kammern. Allerdings wird hier die funktionelle Absicht nicht ganz klar, ob es also um die Verbesserung der Dämpfung, der Stabilität, der Energierückgewinnung oder etwas anderem geht – oder um alles gemeinsam. Die Kammern sind leicht ausgebuchtet und ragen etwas unter dem Vorfuß hervor, so der Eindruck bei der flüchtigen Ansicht im Rahmen von Kipchoges Lauf. An jeder Seite des Schuhs sitzt eine Kammer, wobei die Design-Zeichnung die Anordnung von zweimal zwei übereinander liegenden Kammern zeigt. Allerdings sieht Nikes Konstruktion auch einen Ersatz der mit Flüssigkeit gefüllten Kammern durch Kunststoff-Blöcke vor. Bei Kipchoges Schuh sind lediglich die beiden unteren Kammern sichtbar. Der Schuh könnte also zwei flüssigkeitsgefüllte Kammern und zwei Kunststoff-Blöcke enthalten; möglicherweise sind die beiden oberen Kammern aber auch versteckt unter ZoomX-Schaum.

Drei Karbonplatten in der Mittelsohle?
Das nächste Element sind die Platten, wobei nicht sicher ist, ob sie aus Karbonfaser bestehen. Nike spricht sich hier nicht ganz klar aus („vielleicht ja, vielleicht nein“), aber es deutet alles darauf hin, dass sie aus Karbon sind. Zumal in diesem Jahr Karbon eine große Rolle in der Konstruktionsentwicklung spielt, gerade bei Nike. Und in der neuen Sohle sind sogar drei Platten integriert. Die Konstruktion muss man sich vorstellen wie bei einem Dreifach-Sandwich: sie halten die zwei Schichten mit den flüssigkeitsgefüllten Kammern zusammen. Die untere Platte liegt zwischen Außensohle und den unteren Kammern, die mittlere Platte stabilisiert zwischen den Kammern, und die obere Platte sitzt direkt unterhalb des Fußes.

Nike erklärt die Funktionsweise des Dämpfungssystems so: Beim Aufsetzen des Schuhs verteilt die untere Platte die Kräfte auf die erste Lage der Dämpfung (flüssigkeitsgefüllte oder luftgefüllte Kammern bei Kipchoges Schuhen). Die mittlere Platte nimmt die Kräfte auf und leitet sie weiter an die zweite Lage der Dämpfung (entweder Kammern oder Schaumstoffblöcke) und an die darüber liegende, oberste Platte. Das Design erlaubt zwei komprimierbare Schichten. Die quer eingebauten Platten verteilen dabei die Aufprallkräfte und verhindern punktuelle Belastungen des Fußes.
Von Nike gibt es bislang keine offiziellen Informationen zu dem Schuh, außer dass es eine „zukünftige Version des Nike Next% Marathonschuhs“ sei, was natürlich Fragen offen lässt: Warum ist das System mit Kammern im Vorfußbereich besser als beim ZoomX? Um wie viel verbessert es die Lauf-Ökonomie? Werden weitere Nike-Athleten diesen Schuh in Zukunft einsetzen? Wird der Schuh in Serie gehen und für jeden Läufer erhältlich sein?
Original-Beitrag von Dan Roe, Test-Redakteur RUNNER’S WORLD USA