"Drei bis vier Jahre hat es schon gedauert, bis mir das Laufen wirklich Spaß gemacht hat", erzählt Sonja Henze. Ihr Weg dorthin war steinig, aber er zahlt sich heute aus, denn sie weiß genau, welche Motivationshürden und inneren Schweinehunde zu überwinden sind – eine ideale Qualifikation für ihren Job als Lauftherapeutin.
Rund zehn Stunden in der Woche motiviert sie an der Laufschule Oberhausen Anfänger und Fortgeschrittene, in der Gruppe oder auch mal individuell. "Wir nennen unsere Kurse ehrlich gesagt nie Lauftherapie", erzählt sie, "weil das für die meisten Menschen zu abschreckend und medizinisch klingt. Das Wort Therapie ist eher negativ besetzt. 'Laufkurse für Einsteiger' trifft es einfach besser – und die Leute können sich eher vorstellen, worum es uns geht. Nämlich darum, Menschen beim Einstieg ins Laufen zu begleiten, damit sie dranbleiben und von den vielen Vorteilen des Laufens profitieren können." Am Ende eines zehn- bis zwölfwöchigen Einsteiger-Kurses soll man 30 Minuten am Stück laufen können – egal, wie weit man in dieser Zeit kommt.

In der Regel sind es blutige Anfänger, die sich zu Sonjas Kursen anmelden. "Vom Couch-Potato mit Übergewicht bis zum Rentner, der noch mal etwas Neues ausprobieren will, vom Steuerberater bis zum Lkw-Fahrer", erzählt sie. "Vereinzelt sind es auch Läuferinnen und Läufer, die früher mal ambitionierter gelaufen sind und das verletzungsbedingt nicht mehr können oder dürfen. Die müssen lernen, dass es nicht immer um höher, schneller, weiter geht, sondern dass Laufen einfach guttut und man es genießen kann. Genau darum geht es bei uns: nicht ums Training, sondern darum, die Freude am Laufen zu finden und sie nicht zu verlieren."
"Die eigene Pace ist genau die richtige – bei mir gibt es keine Tempogruppen"
Leuchtende Erinnerungen an Teilnehmer
Auf die Frage, welche Teilnehmer ihr besonders in Erinnerung blieben, antwortet die Lauftherapeutin: "Ganz viele. Zum Beispiel war mal eine Frau im Kurs, die es durch das Laufen schaffte, dass ihr Mann ihre Leistung zum ersten Mal akzeptierte. Unter dessen Einfluss stand die Teilnehmerin nämlich sonst sehr stark. Ein weiteres tolles Beispiel ist Manni. Er ist 65 und jetzt seit zwei Jahren dabei, nachdem er mit dem Renteneintritt plötzlich mehr Zeit hatte, um Sport machen. Davor saß er jahrzehntelang als Lkw-Fahrer hinterm Steuer und bewegte sich nicht sehr viel. Manni joggt nach wie vor ein Tempo, das ambitionierte Läufer wahrscheinlich als langsam bezeichnen würden. Aber er hat Spaß am Laufen und freut sich über die Bewegung an der frischen Luft."

Die meisten Teilnehmer bleiben nach dem Einsteiger- und Fortgeschrittenenkurs im offenen Lauftreff dabei. Die Gruppentherapie sorgt für Zusammenhalt und motiviert dazu, am Ball zu bleiben. "Viele fühlen sich in der Gruppe sehr wohl und haben dort Freundschaften geschlossen. Einige Teilnehmer verabreden sich auch über das Laufen hinaus. Ein entspannter Umtrunk nach der Einheit gehört oft dazu", erzählt Sonja. "Schließlich geht es bei unserer Lauftherapie nicht um Leistungsdruck. Da ist es schon okay, wenn man sich nach dem Laufen mal ein Gläschen Eierlikör gönnt."
Druck im Job, Entspannung beim Laufen
Die entspannte Atmosphäre sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ganze auch einen ernsten, nämlich therapeutischen Kern hat. Sonja sagt den Teilnehmern gern: "Im Job und Alltag hat man so viel Druck – macht euch den nicht auch noch beim Laufen."
Die Fokussierung auf gegenseitige Wertschätzung statt Leistung spiegelt sich auch im Aufbau von Sonjas Kursen. Das Konzept dahinter: "Wir laufen immer zusammen in der Gruppe und auf einem Rundkurs, und wer schnell laufen will und kann, darf das natürlich", sagt Sonja. "Diese Läufer sind dann aber angehalten, wieder zur Gruppe zurückzukehren, was durch das Runden-Prinzip prima funktioniert. Ich würde nie Tempogruppen einteilen, das ergibt sich von allein." Jeder wird also angenommen und jeder ist ein gleichwertiger Läufer – unabhängig davon, in welchem Tempo er unterwegs ist.

Die Bandbreite der sportlichen Fähigkeiten ist auch bei Laufeinsteigern sehr groß, und Sonjas erste Aufgabe besteht darin, jeden auf sich selbst zu fokussieren. "Es gibt Leute, denen das Laufen einfach leichter fällt als anderen und die von Beginn an ein höheres Tempo laufen können. Einige sind zum Beispiel schneller als ich", sagt Sonja. Aber jeder müsse die eigene Ausgangssituation akzeptieren, was vielen anfangs schwerfalle. Man will die eigene Pace erst mal vergleichen – in der Regel mit deutlich erfahreneren Läufern. Dass die aber ganz andere Trainingsvoraussetzungen und Erfahrungen haben, werde allzu oft vergessen und der eigene Lauf als schlechte Leistung abgetan – obwohl man doch aktiver war als sämtliche "Stubenhocker"!
Jeder kann anfangen und mitmachen
Noch nie hat Sonja jemanden abgelehnt, der am Kurs teilnehmen wollte. "In manchen Fällen muss ich einfach etwas mehr motivieren", sagt sie. "Wenn zum Beispiel nach zwei Terminen das Bein wehtut, dann erkläre ich, dass das wahrscheinlich Muskelkater ist und damit etwas ganz Normales. Für manche ist es eben schwieriger dranzubleiben. Aber ich sage immer: Mit ein bisschen Geduld und Spucke kann das jeder schaffen. Ich habe ja nicht den Anspruch, dass man während der angestrebten 30 Minuten Laufzeit eine bestimmte Anzahl Kilometer zurücklegen muss. Mir ist nur wichtig, dass meine Teilnehmer es schaffen, eben genau diese Zeit laufend zu verbringen." In ganz seltenen Fällen wird das Kursziel kurzerhand angepasst und etwa auf 20 Minuten statt der ursprünglichen 30 reduziert. Aber wegschicken würde Sonja niemanden, erklärt sie uns – natürlich gilt das immer unter der Voraussetzung, dass medizinisch nichts gegen das Laufen spricht. "Es ist eben nicht nur das Laufen an sich, sondern auch viel Gesprächsführung und Kopfsache, was die Lauftherapie ausmacht."

Für solche angepassten Kursziele oder auch individuelle Lauf-Ambitionen kann man Personal Trainings bei Sonja buchen. Dazu erläutert sie: "Da kann man dann gezielt und individuell Probleme angehen, wenn jemand zum Beispiel häufig Seitenstechen bekommt oder ein gezieltes Koordinationstraining benötigt. Ein anderes Beispiel: Jemand wollte bei einem Firmenlauf zehn Kilometer schaffen. Das wäre für meine Gruppenkurse zu viel, aber als Einzel-Coaching ließ sich das super umsetzen."
Bei aller Bescheidenheit
Wenn man mit Sonja spricht, ist ihr die Begeisterung darüber, dass ihre Kursteilnehmer Spaß am Laufen entwickeln, in jeder Sekunde anzumerken. Weil sie so gern von ihren Schützlingen berichtet, muss man sie fast ein bisschen drängen, von ihrem eigenen Lauf-Werdegang zu erzählen. Und der ist nicht weniger beeindruckend als die Geschichten ihrer Kursteilnehmer.
"Laufen schien mir da ehrlich gesagt einfach das kleinste Übel zu sein."
"Bei mir war es gewissermaßen auch ein therapeutischer Ansatz: Ich wog 120 Kilo, nachdem ich eigentlich immer sehr schlank gewesen war und die ersten rund 25 Jahre meines Lebens den Blick auf die Waage gar nicht nötig hatte. Aber dann zog ich aus, bestellte des Öfteren Essen beim Lieferservice, bekam zwei Kinder – und nahm immer mehr zu. Irgendwann habe ich mich für ein Abnehmprogramm angemeldet, und da war klar, dass ich nebenher auch etwas Sport machen sollte – und Laufen schien mir da ehrlich gesagt einfach das kleinste Übel zu sein."

Zufällig habe es um die Ecke einen Lauftherapeuten gegeben, der Anfängerkurse gab. "So bin ich dann an der Laufschule Oberhausen gelandet, wo ich heute selbst Einsteigerkurse gebe. Ich musste mich richtig durch den Kurs quälen, aber am Ende konnte ich die 30 Minuten am Stück laufen. Bis mir das Laufen richtig Spaß gemacht hat, hat es dann noch drei bis vier Jahre gedauert. Aber durch das Laufen in der Gruppe und den festen Termin war es leichter für mich, dranzubleiben. Ich weiß also, dass der Weg schwer ist, und kann mich gut in meine Kursteilnehmer hineinversetzen. Ich spreche aber auch aus eigener Erfahrung, wenn ich sage: Am Ende hast du etwas davon!"
Lauftherapie
Bevor sie Lauftherapeutin wurde, war Sonja im öffentlichen Dienst beschäftigt. Doch nach und nach beschlich sie das Gefühl, dass das eigentlich nicht das Richtige war. Der Wechsel zur Lauftherapie ging dann aber doch nicht ganz so flott, wie Sonja schmunzelnd berichtet: "Lustigerweise hatte mein eigener Lauf-Mentor mich schon mehrfach darauf angesprochen, ob ich nicht die Ausbildung zur Lauftherapeutin absolvieren wollte – was ich zunächst ablehnte. Aber irgendwann war der Leidensdruck in meinem Bürojob so groß, dass ich schließlich doch zusagte, als die Frage nach der Lauftherapeuten-Ausbildung erneut aufkam. Und ich fand den Gedanken schon richtig gut, anderen Leuten bei etwas zu helfen, was auch mich so weitergebracht hatte." Den Schreibtisch-Job hat Sonja inzwischen komplett aufgegeben.
Adminitstrative Gartenarbeit
Weil zur Lauftherapie neben dem Laufen aber auch etwas administrative Arbeit gehört, arbeitet Sonja noch regelmäßig am Computer. Allerdings verbringt sie diese Zeit selten am Schreibtisch. Lieber arbeitet sie draußen an der frischen Luft. Sogar im November sitzt sie noch im heimischen Garten – dann eben einfach mit Jacke – und arbeitet Anmeldungen und Formulare ab oder beantwortet Teilnehmerfragen, die digital eintrudeln, beispielsweise zur richtigen Laufbekleidung. Wenn es ab und an einmal mit der Laufgruppe zu einer Laufveranstaltung geht, steht das Outfit aber fest: Dann wird im Shirt der Laufschule Oberhausen angetreten. "Man darf ruhig sehen, wer den meisten Spaß an der Sache hat", erklärt Sonja strahlend.

Über ihr eigenes Training verliert Sonja nur wenige Worte. Sicherlich habe sie eigene Ziele, aber insbesondere gegenüber den Teilnehmern vermeidet sie es, darüber zu sprechen, denn das könnte ja wieder das Vergleichen der eigenen Leistung befördern oder von den individuellen Zielen der Kursteilnehmer ablenken. Aber die Frage sei erlaubt, ob eine Lauftherapeutin trotz der vielen beruflichen Laufstunden auch in ihrer Freizeit noch läuft: "Natürlich gehe ich auch allein für mich laufen", sagt Sonja. "Ich vergleiche das gern mit einem Musiker: Der muss ja auch ständig üben. Für mich ist es wichtig, auch mal in meinem Tempo zu laufen. Wenn ich mit der Gruppe unterwegs bin, passe ich mich natürlich der Geschwindigkeit der Teilnehmer an. Ich bin immer mit dem letzten Läufer der Gruppe unterwegs und orientiere mich an dessen Tempo. Für mich selbst gehe ich etwa zweimal pro Woche laufen, dann aber in meiner Pace, um meine Fitness aufrechtzuerhalten oder auch das ein oder andere läuferische Ziel zu erreichen. Einmal pro Woche gehe ich außerdem ins Bootcamp, also ein Workout mit Kraft- und Stabilisationsübungen, um ausgeglichen zu trainieren. Die Gruppenläufe sind eben nicht mein eigenes Training."
Geheimtipp: Rundenprinzip funktioniert auch privat
Sonjas Kinder sind heute 13 und 14 Jahre alt. Ist das Laufen bei denen auch schon ein Thema? Sonja lacht: "Aktuell sind vor allem Tiktok und andere Apps angesagt." Doch dann fügt sie hinzu, sie achte schon darauf, dass ihre Kinder eine Sportart ausüben – mit Spaß natürlich. Die Wahl fiel da unter anderem auf Handball. Das mit dem Laufen kommt ja vielleicht noch. Sonjas Mann wiederum ist ebenfalls ein Läufer. Auch wenn die beiden gemeinsam rennen, hat sich das Runden-Prinzip bewährt. "Mein Mann hat allein durch seine Statur längere Beine und läuft dementsprechend schneller als ich. Auf der Runde begegnen wir uns aber immer wieder und jeder kann sein Tempo laufen, genau wie in meinen Gruppenstunden."

Es ist Sonja stets anzumerken, wie überzeugt sie vom Laufen und dem Konzept der Lauftherapie ist. Aus eigener Erfahrung weiß sie schließlich, wie viel neues Selbstbewusstsein man dadurch gewinnen kann: "Viele Menschen mit Übergewicht behaupten, sie würden sich wohlfühlen. Wenn man aber abgenommen hat, merkt man: Ich habe mich eigentlich gar nicht wohlgefühlt! So war es jedenfalls bei mir. Und um nicht wieder dick zu werden, muss man etwas tun. Ich werde nie wieder so schlank sein wie mit 20, aber das ist okay. Genau wie mein eigenes Lauftempo für mich genau das richtige und völlig okay ist – und das Wissen darum ist sehr wertvoll. Wirklich leistungsorientiertes Training ist nichts für mich, das habe ich zeitweise mal ausprobiert, bin dann aber schnell wieder zum gesundheitsbetonten Konzept gewechselt. Laufen erdet mich, und überhöhte Leistungsansprüche an mich selbst brauche ich da nicht."
Mitfreude ist die schönste
Was das Schönste an ihrem Job als Lauftherapeutin ist? Da muss Sonja nicht lange überlegen: "Dass man immer Erfolge sieht. Am Ende eines Kurses weiß ich, dass es jeder geschafft hat. Dann freue ich mich mit den Teilnehmern."