Es fing damit an, dass Dan mich eines Tages fragte: „Wie wäre es, wenn wir sie liefen?“ Dan besitzt jahrzehntelange alpine Erfahrung im Klettern, Skifahren und Laufen. Er kann das Terrain wie ein Buch lesen, Risiken einstufen und sichere Entscheidungen treffen. Mit ,sie‘ meinte Dan die Haute Route von Chamonix bis nach Zermatt. Auf der Karte zeigte er Linien im Gletschereis hoch über dem Wintersportort Arolla. Er war längst im Planungsmodus. „Wir laufen statt der klassischen Sommerroute lieber die Gletscher-Haute-Route, die auch die Skitourengeher nehmen. Sie führt direkter durch die französischen und Schweizer Alpen, bleibt in größeren Höhen und hat weniger Auf und Ab in die Täler.“ Da 30 bis 40 Prozent davon über Gletscher führen und viele hohe Pässe zu bezwingen sind, setzt diese Route gründliches Wissen über die Alpen, die Fähigkeit zur Wetteranalyse sowie zur sicheren Orientierung auf Gletschern voraus. Es gibt immer mehr Spalten, die Schmelze schreitet noch schneller voran. Bei gutem Wetter ist das eine tolle Route, bei schlechtem unter Umständen tödlich.
Wir erkundigen uns: Die Gletscher befinden sich nach einem trockenen Winter und dem heißen Sommer 2017 in einem schlechten Zustand. Doch mit Pascal Egli, Doktorand in Gletscherkunde, holen wir noch einen der besten Skyrunner der Schweiz dazu, sodass unser Team steht. Die Wetteraussichten sind nicht schlecht und jetzt, bevor die Saison wechselt, ist einfach der beste Moment für unseren Lauf.
„Die Spalte vor uns ist trocken, mit Steinen überschüttet und schlicht unpassierbar“
Mit Stirnlampen geht es am ersten Tag durch steile Waldschluchten hinauf zur „Refuge Albert 1er“ auf 2702 Meter. Bald danach endet der Weg. Über Block- und Moränengelände erreichen wir den mächtigen Glacier du Tour, den wir als Seilschaft und über klaffende Löcher passieren. Die Bedingungen sind schlechter als erwartet, das Überqueren ist härter als in den letzten Jahren. Dan kann es kaum glauben, er ist sichtlich schockiert. Auf dem Weg zum Col du Tour (3281 Meter) stehen wir dank Gletscherschwund vor der ersten großen Herausforderung: Die Spalte vor uns ist trocken, mit Steinen überschüttet und schlicht unpassierbar – ohne das Eis ist das Geröll lose und bröckelig. Wir ändern die Route, finden eine Spalte samt Seil und können uns schließlich zum Plateau du Trient abseilen. Es ist schon ungewöhnlich genug, sich bei solch einer Tour abseilen zu müssen, doch zudem poltern schließlich auch noch Felsbrocken an uns vorbei. Wir flüchten vor dem Steinschlag in ein Meer aus grauem Eis, das von klaffenden, schwarzen Gletscherspalten durchzogen ist. „Früher konnte man in einer geraden Linie über das Plateau laufen“, erinnern sich Dan und Pascal. Heute müssen wir uns über die zerfurchte Oberfläche des riesigen Gletschers schlängeln.
„Normalerweise ist das Plateau jedes Jahr mit so viel Schnee bedeckt“
Als Trailrunnerin kann ich es oft kaum erwarten, durch schwieriges Gelände in großer Höhe zu laufen – auch solches, in dem nur erfahrene Bergsteiger klarkommen. Manche von uns legen dafür die schweren, klobigen Bergstiefel ab, um auch hier Speed und die bessere Beweglichkeit der Laufschuhe genießen zu können. Klar, dass man viel über uns diskutiert, weil wir uns für das schnellere, leichtere Vorankommen entscheiden und nur das Wichtigste an Ausrüstung dabeihaben. Jetzt aber frage ich mich, ob man sich nicht vielmehr Gedanken darüber machen müsste, warum wir überhaupt hier draußen sind, auf diesem schmelzenden Eis, den Eisbrücken, die bald verschwunden sein werden? Als ich von meiner inneren Debatte mit mir selbst ins Jetzt zurückkehre, sind Dan und Pascal immer noch fassungslos: „Normalerweise ist das Plateau jedes Jahr mit so viel Schnee bedeckt, dass man es locker überqueren kann.“ Sie haben sich immer noch nicht beruhigt, als wir den Gletscher verlassen und den Trail Richtung Bergdorf Champex zum Lac Champex hinablaufen. Am See machen wir Pause und rufen Freunde und Guides an, um uns Tipps zu holen. Wir checken die Wettervorhersagen und bereiten uns auf den nächsten Gletscher und den Plan vor, heute noch auf die Chanrionhütte zu laufen, um dort unsere erste Nacht zu verbringen. Doch die Bedingungen sind schlecht, das Wetter ändert sich schnell und die Gletscherspalten bergen auch ohne Regen und schlechte Sicht Herausforderungen genug.
Unser heutiger Tag sollte eigentlich der einfachste Part gewesen sein, aber jetzt? Können wir überhaupt weitermachen oder müssen wir alles abblasen? Längst stellt sich die Frage nicht mehr, ob es ein Fehler ist, den Trail mit Bergstiefeln und damit Extragewicht zu gehen. Eher die, ob überhaupt jemand bei diesen Bedingungen auf den Gletschern unterwegs sein sollte. Wir entscheiden uns, so lange weiterzulaufen, wie das Wetter stabil bleibt. Der Aufstieg zur „Cabane de Chanrion“ ist einfach und der Hüttenwirt, der wissen will, wie wir denn die Situation der Gletscher beurteilen, stimmt uns zu: „Beschissen, finde ich auch.“
„Sie werden immer gefährlicher und sie verlieren ihre Schönheit.“
Unsere vorletzte Etappe führt uns über die drei Gletscher Otemma, Arolla und Bertol bis zum steilen Anstieg zur Bertolhütte hinauf. Auf dem Weg über den Otemma-Gletscher besuchen wir eine Messstation, bei deren Bau Pascal mitgeholfen hat. Derzeit hilft er dabei, die Daten regelmäßig auszulesen. Sie geben preis, dass der Gletschergigant mit einer alarmierenden Geschwindigkeit schmilzt, im Sommer zehn Zentimeter am Tag. Durchschnittlich verlieren Gletscher in den Alpen vier Meter pro Jahr. Geht das so weiter, werden bis 2050 alle kleineren Gletscher verschwunden sein und die noch verbliebenen dürften dann sehr klein sein. 2100 werden schließlich nur noch Teile der höchsten Gletscher wie etwa des Aletschgletschers existieren. Der enorme Verlust an Eismasse bringt zudem weitere Gefahren mit sich, etwa häufigere Steinschläge. „In Zukunft will ich nur noch im Winter auf den Gletschern sein“, sagt Pascal. „Sie werden immer gefährlicher und sie verlieren ihre Schönheit.“
Noch vor Sonnenaufgang verlassen wir die Bertolhütte. Sterne und der Schein unserer Stirnlampen reißen Löcher in die Dunkelheit, während wir den Mont-Miné-Gletscher überqueren. Rechtzeitig zum Sonnenaufgang erreichen wir den 3710 Meter hohen Tête Blanche mit Blick auf das Matterhorn. Obwohl wir schnell gelaufen sind und der Tag noch jung ist, wird uns bei der Überquerung des Stockjigletschers warm. Auf diesem letzten großen Gletscherabstieg zieht mich eine Gletscherspalte in ihren Bann. Ich schaue in ein unendlich tiefes Loch: blau, beängstigend – wunderschön.
Alles klappt, wir sind ein starkes Team
„Heute könnte der letzte Tag für diese Saison sein, an dem diese Route passierbar ist“, hat uns ein Guide noch am Abend zuvor erzählt. Wir sind konzentriert, als wir durch die Eisfelder laufen, über Gletscherspalten springen und uns durchs Eislabyrinth schlängeln. Auch wenn wir schnell sind, vermittelt uns unsere Geschwindigkeit nie falsches Vertrauen oder Sicherheit. Aber sie erlaubt, dass wir uns schnell vor potenziellen Gefahren und sich verschlechternden Bedingungen in Sicherheit bringen können. Alles klappt, wir sind ein starkes Team, fit, erfahren und vorsichtig. Wir kennen und vertrauen uns. Wir bleiben anpassungsfähig im Hinblick auf unsere Pläne und haben die beste Ausrüstung. Wir wissen, dass wir stets für alles selbst verantwortlich sind, für unsere eigenen Fähigkeiten und auch für unsere Grenzen. Smart genug, um kluge Entscheidungen zu treffen und Risiken zu minimieren.
Doch jetzt möchte ich am liebsten den Boden küssen. Wie ein Schiffbrüchiger, der Land erreicht, lasse ich das letzte Gletschereis hinter mir. Steigeisen und Geschirr sind schnell ausgezogen und samt Seil verstaut. Endlich können unsere auf höchste Vorsicht gepolten Sinne zur Ruhe kommen. Im beruhigenden Wissen, dass uns nicht jede Sekunde der Boden unter den Füßen wegbrechen kann, laufen wir an felsigen Moränen vorbei und schließlich auf sanftem Trail die 20 Kilometer bis Zermatt hinab. Was für ein Kontrast – erst Eis und Spalten, jetzt Hitze und Staub.
Pascal umarmt uns zum Abschied und Dan legt mir seinen Arm um die Schulter. Statt üblichem Bro-Handshake spüre ich zum Abschluss so etwas wie Zärtlichkeit. Offenbar bin ich nicht die Einzige, der ein Stein vom Herzen fällt. Als wir durch die Straßen Zermatts laufen, keimt Stolz in mir auf. Beflügelt und wie auf den letzten Marathonmetern kurz vor dem Zieleinlauf gehen wir die Hauptstraße entlang, nur dass dieses Gefühl noch stärker ist.
Haute Route – wichtige Infos
Start: Chamonix, Seilbahnstation Le Tour
Ziel: Zermatt
Länge: 88 Kilometer
Höhenmeter: ca. 6000
Unsere Strecken: Chamonix–Champex (23 km, 2127 m+/2156 m-); Mauvoisin–Chanrion (13 km, 872 m+/255 m-); Chanrion–Bertol (26 km, 1955 m+/1127 m-); Bertol–Zermatt (26 km, 1033 m+/2645 m-)
Auf eigene Faust: Ein absolutes Muss sind hochalpine Bergerfahrung, Kletter- und Gletscherwissen, gute Partner und stabile Wetterverhältnisse. Tipps für Erfahrene ohne Guide: antizyklisch gehen, beispielsweise an einem Werktag aufbrechen, vorab Hüttenschlafplätze reservieren.
Unterkunft: Essen und Unterkunft auf der Chanrion- und Bertolhütte, unbedingt im Voraus buchen.
Vorbereitung: Jeden Streckenabschnitt im Detail verinnerlichen, flexibel sein, andere Optionen/Alternativen auf dem Schirm haben.
Voraussetzungen Sehr gute Kondition für Auf- und Abstiege von zwei bis über acht Stunden pro Tag. Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, Erfahrung im Gehen mit Steigeisen über Schneefelder, vergletschertes Gelände sowie befestigte Steiganlagen.
Ausrüstung: 15- bis 20-Liter-Rucksack, Steigeisen, Bergstiefel, Eispickel, Eisschrauben, Kletterausrüstung, Petzl-RAD- System, Laufschuhe, außerdem die typische Wanderausrüstung mit warmer Unterwäsche, Zwischen-, äußerer Funktions- und Extra-Isolierschicht, Stirnlampe, Seidenschlafsack, Toilettenartikel, Handschuhe, Mütze, Brille, Wasser und Verpflegung.
Buchtipp: Marianne Bauer und Michael Waeber: „Haute Route – von Chamonix nach Zermatt“, Bergverlag Rother, München 2015. 200 Seiten, 14,90 Euro