
RUNNER’S WORLD: 40.000 Läufer haben bis gestern noch gehofft, diesen September in Berlin Marathon laufen zu können. Dann kam gestern der Senatsbeschluss – wie habt ihr das erfahren und wie war die erste Reaktion im Team?
Jürgen Lock: Das ist natürlich für einen Eventveranstalter eine Situation, die möchte man nicht jeden Tag haben. Die Aussage war sehr überraschend. Der Rundfunksender RBB hatte bei mir angerufen und ich wurde aus einer Sitzung rausgeholt, weil die einen Kommentar haben wollten zu der Meldung, der Marathon sei abgesagt. Ich habe dann gesagt, lass uns mal 15 Minuten warten, damit ich mich informieren kann. Das war so kurz vor 15 Uhr. Ich habe dann versucht die Politik zu erreichen, um zu erfahren, ob die dpa-Meldung stimmt.
Was waren die ersten Reaktionen im SCC-Events-Team?
Jürgen Lock: Nach einem Tag, an dem so etwas eingetreten ist, muss man zunächst erstmal Gespräche führen, sich konsolidieren und sondieren und in den nächsten Tagen versuchen, das aufzuarbeiten. Wir hatten ja ursprünglich von Angela Merkel den 31. August als Termin genannt bekommen, und wir warteten jetzt auf die länderspezifischen Angaben. Insofern kam die Entscheidung gestern einerseits überraschend. Andererseits haben wir natürlich Verständnis für die Entscheidung.
Der Berliner Senat wird ja auch vom Robert Koch Institut beraten. Und ich glaube nicht, dass die davon ausgehen, dass die Pandemie und die damit verbundenen Probleme im August gelöst sein werden. Das muss man nachvollziehen. Da sind alle an der Gesunderhaltung der Menschen interessiert. Wir auch. Dass der 24. Oktober rausgekommen ist, davon war ich gestern überrascht. Das war ein Tag mit tiefgreifenden Folgen für alle Veranstaltungen. Um neun Uhr gestern Morgen wurde das Oktoberfest abgesagt, am Nachmittag dann der Berlin-Marathon – aber das hat natürlich viel weitreichendere Folgen für die komplette Laufbranche. Das ist schon eine sehr tief gehende Geschichte.

Ist denn eine Durchführung des Marathons überhaupt noch denkbar?
Jürgen Lock: Etwa ein reines Eliterennen, so wie es Tokio gemacht hat? Oder eine Verlegung in den späten Oktober/November? Ich halte das für eher unrealistisch! Beim Termin ist es so – das haben wir so ähnlich auch beim Halbmarathon im März gehabt –, dass wir für jedes Event eine Machbarkeitsstudie machen. Ob wir in diesem Jahr so etwas noch auf die Beine stellen können, hängt von zahlreichen Faktoren ab, wobei man sich ausmalen muss, was das bedeutet. Der Berlin-Marathon ist eine internationale Veranstaltung.
Zunächst wissen wir heute nicht, was am 25. Oktober oder am 1. November ist: Wie entwickelt sich die Pandemie? Wir müssen zahlreiche Dinge berücksichtigen, etwa die Witterungsverhältnisse, was, wenn es früher dunkel ist? Dann die medizinische Versorgung – das Set-Up planen wir normalerweise über ein Jahr im Voraus. Da benötigen wir eine große Planungssicherheit – wir müssen ja Tausende Produkte im Vorfeld bestellen können.
Dazu kommt: Wie sieht der Veranstaltungskalender des Landes Berlin aus? Es gilt zum Beispiel bei der Streckenplanung auch die Großbaustellen zur berücksichtigen. Bei unserer Machbarkeits-Matrix kommt immer ein Ergebnis heraus, ob eine Absage nötig oder Verschieben möglich ist. Aber in der Matrix sind etwa 400 bis 500 Assets, die wir berücksichtigen müssen. Ja, es stimmt, ein anderer Vorschlag war ein reines Eliterennen, den Gedanken hat ja auch Horst Milde schon ins Spiel gebracht. Ich meine, das würde nicht den Charakter des Berlin-Marathons ausmachen, da bin ich strikt dagegen. Das war immer eine Breiten- und Spitzensport-Veranstaltung zusammen. Das Konzept haben wir in 46 Jahren nicht aufgeweicht.
Dazu kommt, dass der Internationale Leichtathletikverband die Qualifikationen für WM und Olympische Spiele bis in den November ausgesetzt hat, es wird also kein Qualifier-Rennen geben. In Berlin könnten wir jetzt 200 Eliteläufer hinstellen, das hätte unser Race-Director Mark Milde im Griff, das wäre sicher ein gutes Spitzenfeld. Aber das Land Berlin gibt uns ja die Straßen nicht für ein Eliterennen mit 200 Topläufern. Das wäre unverhältnismäßig. Das ist in Tokio übrigens ganz anders: Da ist der Marathon historisch aus einem klassischen Eliterennen heraus entstanden, da ist es eine andere Sache. Und außerdem war es in diesem Jahr ein Qualifier-Rennen für die eigenen Olympischen Spiele in Japan. Das kommt in Berlin überhaupt nicht in Frage.
Und ein Rennen für weniger als 5.000 Teilnehmer? Würde das den Charakter des Berlin-Marathons wiedergeben? Wenn wir 4.500 Läufer auslosen würden, wäre das unsozial und diskriminierend. – Das sind so viele Dinge, die wir sondieren und bewerten müssen! Und wir haben leider die Situation, dass wir vier oder fünf andere Rennen haben, für die wir parallel auch Lösungen finden müssen.





Wie wichtig wäre die Durchführung, um Sponsoren oder Fernsehrechte zu befriedigen und zu halten?
Jürgen Lock: Naja, bei Fernsehübertragungen im Sport droht ja immer mal der Ausfall durch höhere Gewalt, ob beim Tennis, Fußball oder sonstwo – das ist auch so ähnlich im Laufsport. Dass das für alle nicht schön ist, das wissen wir. Das Recht auf die garantierte Veranstaltung aber hat keiner. Niemand vergibt da eine Termin-Garantie.
Gab es denn schon ein Gespräch mit Andreas Geisel, der als Innensenator auch für Sport zuständig ist?
Jürgen Lock: Ich habe mit dem Senator gesprochen heute. Er hat sich bei mir auch entschuldigt, dass er uns im Vorfeld nicht informiert hat – das war der Situation geschuldet mit Mammutsitzungen und langen Entscheidungsprozessen.
Ich denke, man muss jetzt vor allem gucken: Was müssen wir für unseren Sport, die Unternehmen und Veranstaltungen tun, dass keine Schäden entstehen, die irreparabel sind. Das trifft ja nicht nur uns als Veranstalter – nebenbei bemerkt sind wir ja auch von Kurzarbeit betroffen und müssen mit den wirtschaftlichen Konsequenzen leben – das geht ja von den Laufläden über die Messebauern bis hin, ja, zu RUNNER‘S WORLD – genau dieser Mittelstand und diese Branche wird gerade von der Politik völlig vergessen. Wir sind alle branchenspezifisch aufgestellt, und da steht momentan alles auf Null. Adidas muss 2,4 Milliarden annehmen, um zu überleben. Aber der Mittelstand steht vor der Existenzfrage.
Was können die Veranstalter tun? Gibt es schon eine Perspektive, was als nächstes organisiert werden kann, darf?
Jürgen Lock: Derzeit denkt ja keiner daran, eine Veranstaltung anzumelden. Dieses Jahr ist ein kompletter Ausfall. Jetzt geht es für uns darum, mit den angemeldeten Teilnehmern eine Lösung zu finden. Die haben wir noch nicht. Teilnehmer könnten zum Beispiel einen Gutschein erhalten, der auch für andere Events gilt. Die Gutschein-Regelung ist definitiv gut für die Unternehmen. Es geht dabei um eine entscheidende Frage: Wollen die Läufer weiter Events haben, sollten sie solidarisch sein mit den Veranstaltern. Sonst wird es ein massives Sterben von Veranstaltungen geben – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Und ich bin da ganz optimistisch – auch wenn man die Reaktionen auf den Social-Media-Kanälen sieht. Da gibt es viele tolle Menschen, die sich solidarisch erklären; und, klar, es gibt auch eine Minderheit von Menschen, die sind nur noch peinlich.
Wie ist Deine persönliche Einschätzung: Wie wird es kurz- bis mittelfristig oder nächstes Jahr weitergehen?
Jürgen Lock: Ich habe noch nie so viele Leute laufen sehen wie in den letzten Tagen. Die Leute wollen nichts virtuell machen, sondern laufen, ihren Körper spüren. In Berlin leben die meisten ja in einer 2- oder 3-Zimmer-Wohnung. Und viele haben für sich das Laufen als neue Erfahrung entdeckt. Und sie spüren jetzt, „Hey, das ist ja gar nicht so schlecht, ich kann nach ein paar Tagen schon die doppelte Zeit laufen!“ Auch ich selbst bin fast jeden Tag unterwegs. Und ich sehe viel mehr Läufer, aber auch Skateboardfahrer, Inliner – das ist wie eine Metapher, die Leute wollen raus, sich bewegen und sich treffen.
Wann wird es mit Laufevents weitergehen?
Jürgen Lock: Das wird dauern. Die Pandemie kommt in Wellen. Bis zur Herdenimmunität wird es noch ein paar Jahr dauern, und es ist nicht absehbar, dass der Impfstoff zum Beispiel im August flächendeckend eingesetzt werden kann. Wir müssen uns also auf weitere Infektionswellen einstellen. Ich habe gestern noch mit Kollegen in New York telefoniert (Anmerkung der Redaktion: Der New York Marathon ist für den 1.11. geplant) – und ich gehe davon aus, dass in diesem Jahr gar nichts mehr stattfindet.
Keiner hat eine Glaskugel. Und keiner kann sagen, an welchem Tag etwas gelockert wird und es möglich sein wird, einen Marathon zu veranstalten. Und selbst wenn wir dieses Jahr keine Veranstaltung mehr machen, müssen wir sehen, dass wir Touchpoints haben, Berührungspunkte, wo wir mit interessierten Leuten zusammenkommen. Da könnten wir Expertenrunden oder kleine Veranstaltungen mit 200 oder 300 Leuten organisieren.
Vorausblickend: Wir haben am 11. April 2021 ja unseren Halbmarathon in Berlin – das wäre für viele, die jetzt mit dem Laufen beginnen, ein realistisches Ziel, sich darauf mit genügend Vorlauf vorzubereiten!
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