Wer sagt, Ruhe findet man nur im Sitzen? Für viele Menschen mit ADHS ist es eher umgekehrt. Der Alltag ist oft laut: viel Chaos, Ablenkung, zu viele Reize. Laufen hilft, den Kopf freizubekommen. Wir zeigen dir, wie Laufen als natürliche Bremse funktionieren kann, welche Herausforderungen es dabei gibt und warum der Sport zwar keine Wunderheilung, aber oft der entscheidende Anker im Alltag ist.
Warum Sport und Bewegung bei ADHS helfen
Hinter dem Kürzel ADHS verbirgt sich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Dabei handelt es sich um eine neurobiologische Besonderheit, die vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter auftreten kann. Sie äußert sich vor allem durch Auffälligkeiten in drei zentralen Bereichen:
- starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen,
- starke Impulsivität und
- ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität).
Sport aktiviert genau die Botenstoffe, die für Aufmerksamkeit, Motivation und emotionale Stabilität entscheidend sind, insbesondere Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Bei ADHS ist die Regulation dieser Neurotransmitter häufig beeinträchtigt. Regelmäßige Bewegung kann dieses Defizit teilweise ausgleichen und die Reizweiterleitung im Gehirn spürbar verbessern. Das spürt man meist schon nach einer Einheit: Die Konzentration fällt leichter, die innere Unruhe nimmt ab, Impulse lassen sich besser steuern. Mit den Wochen stabilisieren sich Stimmung und Antrieb weiter und der Schlaf wird tiefer und erholsamer, ein wichtiger Punkt für den Alltag und deine mentale Gesundheit. Gleichzeitig unterstützt Bewegung auch den Stressabbau und du bekommst durch regelmäßiges Training eine wichtige Struktur in deinen Tag.
Laufen als idealer Sport für Menschen mit ADHS
Neben dem Fakt, dass Laufen für einen sofortigen Anstieg dieser wichtigen Neurotransmitter sorgt, gibt es noch weitere Gründe, warum genau Laufen ideal für Menschen mit ADHS ist. Viele Betroffene kämpfen mit Symptomen wie Entscheidungsmüdigkeit (Decision Fatigue) sowie Schwierigkeiten bei Planung und Organisation. Komplexe Sportarten mit viel Ausrüstung, festen Teamzeiten oder komplizierten Regeln können schnell zu Überforderung führen. Laufen ist dagegen radikal simpel: Schuhe an, Tür auf, los. Diese niedrige Einstiegshürde kann für viele sehr hilfreich sein.
Auch tun sich viele Menschen mit ADHS schwer mit klassischer Meditation oder anderen Entspannungsübungen, bei denen man still sitzen sollte. Laufen kann sozusagen als „Achtsamkeit in Bewegung“ gesehen werden. Du kannst den Fokus auf den Atem, den Bodenkontakt und den Rhythmus legen. So zwingst du dein Gehirn ins Hier und Jetzt. Das Gedankenkarussell wird verlangsamt, weil der Körper beschäftigt ist, der Kopf aber einfach abschalten kann, ohne sich auf komplexe Aufgaben konzentrieren zu müssen.
Das Gehirn einer Person mit ADHS liebt Belohnungen, und zwar sofort, nicht erst in ein paar Jahren. Betroffene haben oft Schwierigkeiten mit langfristigen Zielen ohne Zwischenergebnisse. Laufen ist extrem gut messbar. GPS-Uhren und Apps wie Strava liefern ein sofortiges Feedback. Das Sammeln von Kilometern oder das Schlagen der eigenen Bestzeit kann die Motivation bei ADHS enorm verbessern. Doch hier musst du auch vorsichtig sein. Menschen mit ADHS sind anfälliger für Suchtverhalten. Diese Veranlagung kann dazu führen, dass die Grenze zwischen Spaß und einer Obsession verschwimmt.
Positive Effekte von Laufen auf ADHS
Wer mit ADHS läuft, trainiert nicht nur die Beine, sondern auch den Teil des Gehirns, der für Planung, Impulskontrolle und Fokus zuständig ist und bei ADHS oft im „Ruhemodus“ verweilt. Die Vorteile von Laufen können sogar deinen Alltag spürbar verändern.
Der Effekt danach
Einer der wertvollsten Effekte tritt oft erst nach dem Laufen ein. Wie bereits erklärt, fördert Laufen die Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Das sind genau jene Neurotransmitter, die bei ADHS-Betroffenen im präfrontalen Kortex zu wenig verfügbar sind. So können sich ADHS-Patientinnen direkt nach dem Sport oft besser konzentrieren. Diesen Zeitraum kannst du strategisch für Aufgaben nutzen, die hohe mentale Anstrengung erfordern.
Emotionsregulation und Stressabbau
Menschen mit ADHS erleben Emotionen oft intensiver und haben Schwierigkeiten, Frustration oder Wut zu regulieren (Dysregulation). Laufen kann für dich wie ein Reset wirken, denn es senkt den Cortisolspiegel und erhöht gleichzeitig Serotonin und Endorphine. Es wirkt als natürlicher Stimmungsaufheller und hilft, emotionale Spitzen zu entschärfen.
Besserer Schlaf
Schlafstörungen sind ein häufiger Begleiter von ADHS. Wer abends nicht abschalten kann, ist am nächsten Tag unkonzentrierter, es ist wie ein Teufelskreis. Die Lösung: Körperliche Auslastung durch Laufen fördert den Tiefschlaf. Jedoch solltest du nicht zu spät abends trainieren, da dich das Noradrenalin sonst wachhalten kann.
Gesteigertes Selbstbewusstsein
Viele Menschen mit ADHS kennen abgebrochene Projekte, negative Rückmeldungen und Vorurteile. Laufen liefert regelmäßig spürbare und messbare Fortschritte. Zum Beispiel die ersten 5 Kilometer, die verbesserte Pace oder einfach das Durchziehen bei Regen. Diese Erfahrungen können sich auch auf andere Lebensbereiche positiv auswirken.
Fehler und Herausforderungen beim Laufen mit ADHS
Die neurobiologischen Besonderheiten können auch für typische Schwierigkeiten sorgen. Wenn du diese Muster jedoch kennst, dann kannst du diese Stolpersteine austricksen und überwinden, statt daran zu scheitern. Neben den Herausforderungen findest du hier auch Lösungen und Tipps für ein erfolgreiches Lauftraining mit ADHS.
Das „Alles-oder-Nichts“-Prinzip
Menschen mit ADHS sind oft Meister der Extreme. Deshalb kann es schwierig sein, einen moderaten Einstieg ins Laufen zu meistern. Man beschließt zu laufen, kauft sofort die teuerste Ausrüstung, meldet sich für einen Marathon in drei Monaten an und läuft in der ersten Woche 50 Kilometer. Die Folgen können Überlastungsverletzungen sein oder dass man schnell das Interesse verliert.
Die Lösung: Ein Trainingsplan von außen, der dich nicht nur motiviert, sondern dich auch bremst, indem er kleine Ziele setzt und Fortschritte sichtbar macht, zum Beispiel über ein kurzes Lauftagebuch. So spürst du regelmäßig Erfolg, ohne zu überziehen.
Impulsivität
Die Impulskontrolle ist bei ADHS oft geschwächt. Das kann es für dich sehr schwierig machen, langsame und regenerative Läufe einzuhalten.
Die Lösung: Technik nutzen! Eine Laufuhr mit Pulsalarm, die piept, wenn man zu schnell ist, kann für dich die Kontrolle übernehmen.
Langeweile
Long Runs können für viele Betroffene schnell langweilig werden. So kann es passieren, dass man lange Läufe schnell abbricht oder sich so quält, dass die Motivation und Lust verloren gehen.
Die Lösung: Höre spannende Podcasts, Hörbücher oder Musik und nutze Apps wie zum Beispiel „Zombies, Run!“. Dabei ist es deine Aufgabe, so schnell wie möglich alle Vorräte unterwegs einzusammeln und unversehrt das sichere Haus zu erreichen. Vor dem Lauf kannst du zwischen verschiedenen Missionen wählen, die sich alle in Länge, Tempo und Geschichte unterscheiden. Auch die Streckenwahl kann entscheidend sein: Trailrunning fordert deine ständige Aufmerksamkeit und ist somit ein perfektes Gegenmittel zur Monotonie.
Inkonsistenz
Für Menschen mit ADHS gilt oft: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Wenn man wegen einer Erkältung drei Tage nicht gelaufen ist, „vergisst“ das Gehirn, dass man eigentlich Läufer ist. Die Routine ist weg und es dauert, bis man wieder einsteigt.
Die Lösung: Organisiere dir einen Laufpartner, damit du eine Verpflichtung und feste Laufzeiten hast. Dadurch fällt es dir leichter, dranzubleiben.
Organisations-Stress
Das eigentliche Laufen ist oft nicht das Problem, sondern der Weg dorthin. „Wo ist meine Uhr? Sind die Socken gewaschen? Ich finde den Brustgurt nicht.“ Die organisatorischen Schritte vor dem Lauf verbrauchen manchmal so viel mentale Energie, dass man aufgibt, bevor man den ersten Schritt gemacht hat.
Die Lösung: Die Laufsachen am Vorabend komplett rauslegen. Alles muss griffbereit sein, um die Entscheidung zu verkürzen.
Kinder mit ADHS und Laufen – worauf muss ich achten?
Ein kritischer Punkt ist die realistische Selbstwahrnehmung. Kinder und Jugendliche mit ADHS merken im Eifer des Gefechts oft nicht, wann ihre eigenen Grenzen erreicht sind oder wann sportlicher Ehrgeiz in ungesunden Druck umschlägt. Eltern sollten daher wachsam beobachten, ob das Laufen dem Kind wirklich guttut oder ob der Wetteifer zusätzlichen Stress oder Überforderung verursacht. Auch in Laufgruppen birgt die typische Impulsivität Risiken: Plötzliche Regelverstöße oder unbedachte, aggressive Reaktionen können die Verletzungsgefahr für alle Beteiligten erhöhen. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist Transparenz entscheidend. Informiere die Trainerin oder den Betreuer vorab offen über die Diagnose, damit diese das Verhalten richtig einordnen können, oder vereinbare idealerweise einige Probestunden. So lässt sich ohne Verpflichtung testen, ob die Chemie in der Gruppe stimmt.
Laut einer Untersuchung ist auch entscheidend, in welcher Umgebung Kinder mit ADHS laufen. Eine Studie verglich die Konzentrationsfähigkeit von Kindern mit ADHS nach Spaziergängen in verschiedenen Umgebungen. Das Ergebnis: Schon 20 Minuten Bewegung im Grünen (Park/Wald) verbesserten die Konzentration signifikant stärker als die gleiche Bewegung in einer städtischen Umgebung oder Wohnsiedlung. Die Forscher stellten außerdem fest, dass der Effekt in seiner Stärke vergleichbar war mit der Wirkung gängiger ADHS-Medikamente (Methylphenidat).
Wichtig: Sport allein reicht bei einer ADHS nicht als Therapie. Vielmehr wirkt er erst richtig mit anderen Maßnahmen zusammen, zum Beispiel mit einer Verhaltenstherapie oder psychologischer Betreuung.
Wichtige Fragen zu Laufen mit ADHS
Man darf Sport und Medikamente nicht einfach gleichsetzen. Besonders bei stark ausgeprägten Symptomen stößt die reine "Selbstbehandlung durch Sport“ an ihre Grenzen, da der Effekt meist nur für wenige Stunden anhält. Deshalb sollte man Laufen eher als eine Ergänzung verstehen. Eine eigenmächtige Absetzung der Medikamente sollte niemals ohne ärztliche Rücksprache erfolgen.
Eine perfekte Ergänzung zum Laufen finden viele Betroffene zum Beispiel im Bouldern oder Klettern. Wenn du drei Meter über dem Boden hängst, dann hast du schlicht keine Kapazität mehr für das übliche Gedankenkarussell. Ähnlich effektiv wirken Kampfsportarten wie Boxen oder Brazilian Jiu-Jitsu. Sie sind ein ideales Ventil, um dich bei Unruhe und Stresshormone körperlich abzureagieren. Wer es noch abwechslungsreicher mag, findet oft im Crossfit oder hochintensiven Intervalltraining ein perfektes Match. Die Kombination aus ständig wechselnden Übungen, Zeitdruck und der Wettkampfcharakter verhindert Monotonie und liefert schnelle Erfolgserlebnisse.
Am Ende gilt: Die beste Sportart ist die, die im Moment Spaß macht. Viele Menschen mit ADHS wechseln alle paar Monate die Disziplin. Das ist kein Fehler, sondern eine völlig legitime Strategie, um die Motivation frisch zu halten.
Auf jeden Fall! Ein Marathon ist eigentlich wie gemacht für Personen mit ADHS, da diese oft nach extremen Reizen und großen Zielen suchen. Die eigentliche Hürde ist dabei selten das Rennen selbst, sondern der Weg dorthin. Die lange Vorbereitung, die Geduld und Konstanz erfordert, kann auch leicht zur Qual werden, wenn du dich ständig nach Neuem sehnst. Suche dir deshalb einen abwechslungsreichen Trainingsplan, wechselnde Strecken oder soziale Verpflichtungen.





