Umfang oder Intensität? Vor dieser Frage stehen irgendwann viele Läuferinnen und Läufer. Das Balancespiel zwischen Grundlagenausdauer- und Tempotraining ist immer wieder eine Herausforderung. Ob du mehr ruhige Kilometer laufen solltest oder lieber schnelle Intervalle, hängt von vielen Faktoren ab. Das polarisierte Training ist ein vor allem im Leistungssport verbreitetes Konzept, das eine klare prozentuale Verteilung und Durchführung von niedriger und hoher Intensität vorsieht. Wie es funktioniert und ob es für dich infrage kommt, erfährst du im Folgenden.
Die Prinzipien des polarisierten Trainings
Wie viele andere Modelle auch, setzt das polarisierte Training zunächst einmal auf eine Trainingsintensitätsverteilung: Etwa 80 % der Einheiten finden im aeroben Bereich statt, ungefähr 20 % im hochintensiven. Das Besondere an dem Konzept ist die Fokussierung auf die Randbereiche – im Grundlagentraining wird bei wirklich geringer Belastung gelaufen, während es im Tempotraining richtig scharf zur Sache geht. Auf die Herzfrequenzzonen bzw. Trainingszonen gemünzt, bedeutet das:
- 80 % Grundlagen bei etwa 70 bis 80 % der maximalen Herzfrequenz bzw. 50 bis 75 % der VO₂max
- 20 % hochintensives Training bei 88 bis 95 % der HFmax bzw. 82 bis 94 % der VO₂max
Die Werte sind eine grobe Richtlinie und können sich individuell unterscheiden. Auch die 80/20-Verteilung ist nicht in Stein gemeißelt: Der intensive Anteil kann auch weniger betragen.
Der entscheidende Punkt beim polarisierten Training ist die dezidierte Betonung der Pole „Grundlagen“ und „Intensität“. Das soll verhindern, dass zu viel Trainingszeit im mittleren Bereich stattfindet. Einheiten bei etwa 80 % der HFmax sind vielen Läuferinnen und Läufern am liebsten. Sie gelten aber als ineffizient, wenn es um Leistungsfortschritte geht.
Wie sieht ein Trainingsplan mit polarisiertem Ansatz konkret aus?
Ein Ausdauertraining nach dem polarisierten Trainingsmodell bedeutet vor allem viel lockeres Grundlagentraining. Die meisten Einheiten finden in einem gemütlichen Tempo statt, in dem du dich normal unterhalten kannst – beispielsweise bei einem langsamen Dauerlauf. Die harten Tempoeinheiten sind das Salz in der Suppe und bilden den Kontrast. Du kannst sie in Form eines High Intensity Interval Trainings (HIIT) absolvieren und damit insbesondere deine VO₂max verbessern oder als Schwellentraining. Mit Letzterem erhöhst du deine Laktatschwelle. Häufig wird jeweils eine dieser Einheiten pro Woche absolviert. Ziel des polarisierten Trainings ist es also, beim Umfangtraining möglichst wenig zu ermüden, um es bei den Tempoeinheiten richtig krachen lassen zu können.
Schlüsseleinheiten beim polarisierten Training sind:
Dauerläufe
Langsam bei weniger als 75 % der HFmax
Ziel: Grundlage, Fettstoffwechsel, Regeneration
Langer Lauf
Wie Dauerlauf, aber länger als 90 Min.
Ziel: aerobe Ausdauer, muskuläre Anpassung, Laufökonomie
HIIT bzw. VO₂max-Intervalle
Kurze bis mittellange Intervalle von 30 Sek. bis 5 Min. bei 90 bis 95 % der HFmax
Ziel: maximale Sauerstoffaufnahme und Tempo
Schwellentraining
Längere, gleichmäßig harte Einheiten von 20 bis 30 Min. mit ca. 88 bis 92 % der HFmax
Ziel: Laktatschwelle und Renntempo verbessern
Temposteigerungen
6- bis 10-mal für 15 bis 30 Sek. schnell am Ende eines Dauerlaufs
Ziel: Lauftechnik und neuromuskuläre Aktivierung
Auf die harten Einheiten sollte stets ein Tag mit leichtem oder gar keinem Training folgen. Nur mit ausreichend Erholung kann sich deine Leistung nach dem Prinzip der Superkompensation entwickeln.
In deinem Trainingsplan kann das wie folgt aussehen:
Polarisiertes Training vs. andere Trainingsmodelle
Alle Trainingskonzepte haben Vorteile, Nachteile und Risiken – das polarisierte Training genauso wie beispielsweise ein reines Schwellentraining. DAS optimale One-fits-all-Modell gibt es nicht, wie eine vergleichende Gegenüberstellung zeigt.
Unterschiede zum Umfangtraining
Mit einem Fokus auf den Umfang legst du eine gute aerobe Basis. Viele lockere Einheiten trainieren die Laufökonomie und muskuläre Ausdauer. Ohne Tempotraining fehlt aber der Reiz, um die VO₂max und das Renntempo zu verbessern: Deine Leistungsfähigkeit stagniert. Das polarisierte Training baut ebenso solide die Grundlagenausdauer auf, ergänzt sie aber konsequent mit punktuellen, intensiven Intervallen, die dich voranbringen. Wenn du nie an Wettkämpfen teilnimmst oder du nicht schneller laufen möchtest, kann ein reines Umfangtraining ausreichen. Ansonsten ist ein Modell mit Tempospritzen wie das polarisierte Training geeigneter.
Unterschiede zum Schwellentraining
Während das polarisierte Training eher auf kurze Spitzenreize setzt, bewegst du dich im Schwellentraining lange in der „Knautschzone“ – also in einem Bereich, der anstrengend ist und sich auch unangenehm anfühlen kann. Läufe an der aerob-anaeroben Schwelle verbessern deine Fähigkeit, über längere Zeit ein hohes Tempo zu halten. Nachteil: Solche Einheiten sind sehr fordernd und können zur Überlastung führen – vor allem, wenn weitere Tempoeinheiten dazukommen und die Erholung auch im Alltag hinten runterfällt. Bei einer Polarisation ist diese Gefahr geringer. Das ruhige Umfangtraining ermüdet wenig, du gehst frisch in die Schlüsseleinheiten.
Unterschiede zum pyramidalen Training
Beim pyramidalen und polarisierten Training liegt der Unterschied in einem buchstäblich zentralen Detail. Beide setzen auf eine breite Basis aus lockeren Einheiten und auf gezielte Spitzenreize. Das Pyramidentraining schaltet aber eine Schicht mit Einheiten im mittleren Intensitätsbereich dazwischen. Du absolvierst also regelmäßig längere Abschnitte im Schwellentempo. Das Training ist dadurch abwechslungsreicher und nicht so stark fokussiert wie bei der Polarisation. Diese wiederum ist die bessere Wahl, wenn du deine VO₂max effektiv optimieren und/oder deine Gesamtbelastung trotz hohen Umfangs reduzieren willst.
Fazit des Vergleichs: Beim Thema optimales Trainingskonzept kann man sich den Kopf heiß diskutieren. Letztlich kommt es bei der Wahl eines Modells auf die persönlichen Ziele, Voraussetzungen und Vorlieben an.
Messung und Steuerung der Intensität
Da bei der Polarisation so stark zugespitzt wird, muss die Intensität stimmen – sonst gerät das ganze Konzept aus den Fugen. Verlässt du bei den lockeren Einheiten den Grundlagenbereich, schießt du dich mit dem harten HIIT-Training bzw. den VO₂max-Intervallen garantiert ab. Absolvierst du diese umgekehrt mit zu niedriger Intensität, bleibt die Leistungsentwicklung auf der Strecke. Eine zuverlässige Messmethode muss also her, um das polarisierte Training optimal zu steuern.
Am verbreitetsten ist die Herzfrequenzmessung. Die Belastung wird hier in drei oder fünf Trainingszonen eingeteilt – in Zone 1 ist die Intensität am niedrigsten, in Zone 3 bzw. 5 am höchsten. Jeder Zone wird eine Herzfrequenzspanne zugeordnet.
Für eine Steuerung des polarisierten Trainings genügt ein 3-Zonen-Modell:
- Zone 1 (niedrige Intensität): Grundlagenausdauer 1, unter 80 % der HFmax
- Zone 2 (moderate Intensität): Grundlagenausdauer 2, ca. 80 bis 88 % der HFmax
- Zone 3 (hohe Intensität): ca. 88 bis 100 % der HFmax
Du musst also deinen Maximalpuls kennen, um die Intensität beim polarisierten Training auf dieser Basis zu steuern: So kannst du deine maximale Herzfrequenz bestimmen. Alternativ lassen sich die Herzfrequenzbereiche auch von der VO₂max ableiten. Am exaktesten ist eine Bestimmung der Trainingsbereiche durch eine Leistungsdiagnostik: Hier werden alle wichtigen Werte wie die HFmax, VO₂max und die Laktatschwelle über Blutproben und Atemgase gemessen.
Wichtig zu wissen: Die Herzfrequenz reagiert bei harten, kurzen Intervallen verzögert auf die Belastungssteigerung. Der höchste Wert wird erst nach einigen Sekunden oder Minuten erreicht – meist sind es zwischen 10 Sekunden und einer guten Minute. Das ist eine ganze Menge, die eine genaue Intensitätssteuerung doch sehr beeinträchtigt. Wer es ganz genau wissen und machen will, sollte zusätzlich zur Herzfrequenz einen weiteren Messwert heranziehen. Das kann die Pace sein, die du zusammen mit deinen persönlichen HF-Trainingsbereichen mit unserem Puls- und Pace-Rechner ermitteln kannst. Oder du verwendest die Wattmessung als Ergänzung. Bei längeren Intervallen ab zwei Minuten ist die HF-Messung wieder zuverlässiger und in der Regel ausreichend.
Was sagt die Wissenschaft? Studien, Effekte und Grenzen
In den letzten Jahren haben viele Studien die hohe Effektivität des polarisierten Trainings bestätigt. In Deutschland ist vor allem die Arbeit von T. Stöggl und B. Sperlich (2014) bekannt – sie wurde mit 48 bereits gut trainierten Läufern, Radfahrern, Triathleten und Skilangläufern über 9 Wochen durchgeführt. Dabei wurde das polarisierte Training mit drei weiteren Methoden verglichen: Umfangtraining, Schwellentraining und HIIT. Ergebnis: Bei der VO₂max, der Zeit bis zur Ermüdung und bei der Maximalleistung zeigte das polarisierte Training die größten Verbesserungen. Etliche Ausdauersportlerinnen und -sportler aus dem Spitzen- und Amateurbereich wendeten die Methode daraufhin an.
Eine Metaanalyse von 2024 zeigt aber ein anderes Bild und die Grenzen der Polarisation auf. Demzufolge ist das Trainingsmodell lediglich bei der Entwicklung der VO₂max überlegen, nicht aber bei den weiteren Leistungsparametern. Die VO₂max-Verbesserungen zeigten sich außerdem nur bei Leistungssportlern und über einen begrenzten Beobachtungszeitraum von weniger als 12 Wochen.
Es stellt sich also die Frage, ob sich das polarisierte Training wirklich lohnt – vor allem, wenn du dich im Hobbybereich bewegst. In der Praxis ist es oft schwierig, die beiden Pole genau zu treffen. Der Herzfrequenzbereich bei den niedrigintensiven Einheiten vermittelt vielen das Gefühl einer Unterforderung. Und das hochintensive Training erscheint oft viel zu hart. Nicht ohne Grund ist der mittlere Bereich für die meisten der „sweet spot“.
Praktische Tipps und häufige Fehler beim polarisierten Training
Beim polarisierten Training kannst du leicht ins Fettnäpfchen treten. Vor allem Anfänger überfordern sich schnell. Mit diesen Tipps vermeidest du die gängigsten Fehler:
Mach die leichten Einheiten wirklich leicht
Beim polarisierten Training sind die penible Trennung und die Verteilung der Intensitätsbereiche unabdingbar. Mindestens 75 % deines Trainings muss in sehr leichter Intensität erfolgen. Hier überziehen viele, weil ihnen diese Einheiten wie Spaziergänge erscheinen. Umgekehrt werden die harten Intervalle aufgeweicht und sind ineffektiv. Bist du gut trainiert und erfahren, solltest du den Schwerpunkt im Zweifel auf die Qualität der HIIT-Einheiten legen und ansonsten viel in die Regeneration investieren. Anfänger konzentrieren sich lieber erst einmal auf die Grundlagenausdauer.
Achte auf die Qualität
Gestalte die intensiven Einheiten vorrangig als gut strukturierte Intervalle und nicht als Schwellenläufe. Weniger Wiederholungen mit hoher Intensität und vollständiger Erholung haben einen klaren Fokus und sind sehr effektiv – insbesondere als Bahntraining mit kontinuierlicher Leistungsmessung. Bei einem Schwellenlauf im Wald neigst du eher dazu, abgelenkt zu sein und den idealen HF-Bereich zu verlassen.
Vergiss Progression und Periodisierung nicht
Auch beim polarisierten Training gelten die üblichen Prinzipien der ansteigenden Belastung und Zyklisierung. Steigere Volumen oder Intensität schrittweise um etwa 10 Prozent pro Woche und baue regelmäßige Erholungswochen ein. Eine Periodisierung über das ganze Laufjahr hilft dir, deine Form schrittweise aufzubauen und ein Übertraining zu vermeiden.
Mach Krafttraining
Nur Laufen ist zu einseitig, auch beim polarisierten Training. Verzichtest du auf Krafttraining, fehlt dir die Stabilität für die schnellen, stark belastenden Einheiten – das Verletzungsrisiko steigt. Auch bei diesem Konzept solltest du mindestens eine, besser zwei Einheiten mit Kraft- bzw. Stabiübungen pro Woche in deinen Trainingsplan einbauen. Integriere hier gerne auch ein Mobilitätsprogramm.
Nimm Warnsignale ernst
Beim polarisierten Training wird zu 20 Prozent der Trainingszeit „geballert“: Das steckt nicht jeder Körper einfach so weg. Schwere Beine und leichter Muskelkater sind nach einem harten Intervalltraining normal, aber starke Schmerzen, Schlafstörungen, Appetitverlust oder anhaltende Leistungseinbußen sind Warnsignale. Eine Polarisation erfordert eine ehrliche Selbstanalyse: Wenn es zu viel wird, solltest du die Belastung sofort reduzieren und mehr Ruhetage einlegen, statt stur weiterzumachen.
Plane für Wettkämpfe eine spezifische Vorbereitung ein
Eine polarisierte Verteilung ist gut für die aerobe Basis und maximale Sauerstoffaufnahme, aber nicht für die spezifische Wettkampfvorbereitung. Plane in den letzten 4 bis 6 Wochen vor einem Wettkampf gezielte Einheiten im Renntempo ein, gefolgt von Tapering. So kombinierst du Grundlagenausdauer mit Schnelligkeit, ohne dass die Erholung zu kurz kommt.
FAQ zum polarisierten Training
Idealerweise startest du langsam und steigerst dich über 6 bis 8 Wochen. In der ersten Woche trainierst du zu 90 % locker und planst eine kurze, harte Einheit ein. In Woche 3 und 4 ist die Verteilung 85/15 mit einer längeren Intensiveinheit und ab Woche 5 kannst du das 80/20-Prinzip mit bis zu zwei intensiven Einheiten angehen.
Da bei Tempotraining viel Stresshormone ausgeschüttet werden, ist es sinnvoll, entsprechende Einheiten nicht am späten Abend durchzuführen – das stört den Schlaf. Am Morgen kommt der Energieschub dagegen gerade recht. Je nach persönlichem Biorhythmus kann auch der Vor- oder Nachmittag ein idealer Zeitpunkt sein.
Zwei kurze Krafteinheiten pro Woche reichen. Absolviere sie am besten an den lockeren Trainingstagen – entweder direkt im Anschluss an die Laufeinheit oder als separate Session mit mindestens 6 Stunden Abstand. Am Tag vor einem geplanten VO₂max-Training ist Krafttraining tabu.
Ja, moderate Alternativsportarten wie Radfahren oder Schwimmen eignen sich hervorragend als lockere Einheiten. Sie erhalten deine Ausdauer, reduzieren die Laufbelastung und senken dadurch Überlastungsrisiken.
Trainingsanpassungen bleiben nur bei fortlaufender Belastung erhalten. Sobald du die Reize weglässt, sinken deine Leistungswerte innerhalb weniger Wochen bis Monate: die maximale Sauerstoffaufnahme in der Regel schneller als die Tempoausdauer.





